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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

953-956

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schliesser, Benjamin

Titel/Untertitel:

Zweifel. Phänomene des Zweifels und der Zweiseeligkeit im frühen Christentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XX, 510 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 500. Lw. EUR 169,00. ISBN 9783161619274.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die hier zur Besprechung vorliegende Monographie von Benjamin Schliesser könnte auf den ersten Blick als Pendant zur Dissertation des Autors zum Thema »Glaube« erscheinen (Abraham’s Faith in Romans 4, Tübingen 2007). In Anlage und Durchführung unterscheidet sie sich aber grundlegend davon und umfasst, einer Habilitationsschrift angemessen (Zürich 2020), ein viel weiter reichendes Text- und Themenfeld. Behandelt werden in je eigenen Kapiteln neben einschlägigen paulinischen Texten die Synoptiker, das Johannesevangelium, der Jakobusbrief, der Hebräerbrief sowie, die Grenzen des neutestamentlichen Kanons überschreitend, der Hirt des Hermas, darüber hinaus passim weitere frühchristliche Schriften wie der 1. und 2. Clemensbrief, die Didache und der Barnabasbrief (Stellenregister: 485–494). Hervorzuheben ist gleich vorweg die durchgängige Berücksichtigung der neuen und neuesten, insbesondere aber auch der älteren Forschungsgeschichte und der Auslegungsgeschichte der behandelten Schriften, von den patristischen Quellen über mittelalterliche Kommentare bis in die Reformationszeit. Darüber hinaus kommt bei den Exegesen der neutestamentlichen Texte entsprechend dem aktuellen Standard des Fachs immer auch die ganze Breite der frühjüdischen und hellenistisch-römischen Literatur gebührend zur Geltung. Damit gewinnt das Buch den Charakter eines Standard- und Nachschlagewerks zu einem wichtigen Thema neutestamentlicher Theologie.

Dieses Thema genauer zu bestimmen, dienen die beiden ersten Kapitel. Die »Einführung« (1–20) erfasst das Phänomen des Zweifels im frühen Christentum und seine Reflexion im philosophischen, theologischen und ethischen Diskurs der Gegenwart und erläutert Methodik und Aufbau der Untersuchung. Dabei tritt schon die Problematik vor Augen, die sich aus Begriffsgeschichte und Bedeutung des deutschen Wortes »Zweifel« mit Blick auf das Thema im Neuen Testament ergibt: Der üblicherweise mit ihm verbundene semantische Gehalt des Kognitiv-Intellektuellen sei, zumal in theologischen Zusammenhängen, als Engführung zu erkennen und von den neutestamentlichen Texten her aufzubrechen. Für die Textauswahl sind daher »alle Passagen einzubeziehen, die in der Übersetzungs- und Auslegungsgeschichte mit dem Zweifel assoziiert wurden«, nicht nur die, in denen bestimmte griechische Vokabeln mit der deutschen Wortgruppe »zweifeln« übersetzt werden (12, vgl. 15).

Dementsprechend umfasst das zweite Kapitel (»Die Sprache des Zweifels im frühen Christentum«, 21–56) nicht nur das Vokabular der griechischen Wortgruppen, die im Deutschen mit »zweifeln« wiedergegeben werden (ob zu Recht, ist dann Gegenstand der exegetischen Kapitel), sondern auch die Wortfelder, die in den entsprechenden neutestamentlichen Diskursen aktualisiert werden. Damit tritt nun doch auch das Thema »Glaube« (bzw. »Unglaube« oder »Kleinglaube«) als zentrales Element dieser Diskurse mit in den Blick. Zugleich wird schon hier die deutsche Wiedergabe bestimmter griechischer Termini wie z. B. διακρίνεσθαι oder δίψυχος mit »zweifeln« o.ä. kritisch reflektiert, was dann ebenfalls in den exegetischen Kapiteln aufgegriffen und vertieft wird.

Im Paulus-Kapitel (57–104) werden im Grunde nur zwei Aussagezusammenhänge aus dem Römerbrief behandelt, in denen das Lexem διακρίνεσθαι begegnet (Röm 14,1–15,13 und 4,1–25), diese freilich umso genauer und jeweils mit einem Ergebnis, das der bisherigen Mehrheitsexegese dieser Stellen widerspricht. In beiden Textzusammenhängen sei nämlich (ebenso wie in der griechischen Semantik des Verbums) nicht vom Zweifel im heutigen Sinn die Rede, sondern eher von Phänomenen der Auseinandersetzung bzw. Trennung und Spaltung. Der διακρινόμενος in Röm 14,23 ist demnach nicht der schwache Zweifler, sondern derjenige, »der spaltet bzw. sich abspaltet und die Gemeinde durch sein Verhalten auseinandertreibt« (81). In Röm 4,20 ist nicht vom inneren Zweifel Abrahams an der Verheißungstreue Gottes die Rede, sondern davon, dass Abraham das Heilshandeln Gottes angesichts seines Alters nicht negiert und sich von ihm abwendet, sondern im Glauben darauf vertraut, dass Gott ihn zum Verheißungsträger ermächtigt (»die Wahrnehmung seiner physischen Schwäche lässt ihn nicht in kritische Distanz zu Gott treten«, 96).

Auch im Kapitel zu den Synoptikern (105–185) werden nur einige wenige ausgewählte Texte ausführlich exegetisch analysiert, aus Markus die Perikope von der Heilung des epileptischen Knaben (Mk 9,14–29, wegen V. 24: »Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!«), aus Matthäus die Geschichte vom sinkenden Petrus (Mt 14,28–32) und, besonders gewichtig, die das Evangelium abschließende Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen (Mt 28,16–20, wegen der freilich von S. problematisierten Übersetzung von V. 17 »einige aber zweifelten«). Lukas kommt nur passim vor, erhält dann aber doch in der zusammenfassenden Auswertung noch einiges Gewicht (402 f. zu Lk 24; vgl. auch 170 f.). Die Auslegung von Mk 9,14–29 wird ganz auf den Glauben bzw. Unglauben des Vaters zugespitzt. Man kann fragen, ob damit dem Themenbereich im Rahmen der Theologie des zweiten Evangelisten ausreichend Rechnung getragen ist. M. E. wäre hier stärker der christologische Diskurs zu berücksichtigen, der das ganze Evangelium von Anfang bis Ende durchzieht, und zu fragen, wie er narrativ so entfaltet wird, dass den Lesern aus der provokativen Schlusssentenz »sie fürchteten sich nämlich« (Mk 16,8; dazu nur ganz kurz 170 im Zusammenhang von Mt 28,16–20) nicht die blanke Angst entgegenspringt, sondern vielmehr die Gewissheit, aus dem Lesen (oder Hören) des Evangeliums zu einer lebendigen Begegnung mit dem Auferstandenen geführt zu werden. In der matthäischen Jesuserzählung tragen die Petrusszene auf dem galiläischen Meer und die Abschiedsszene mit den elf Jüngern auf dem galiläischen Berg (beide aus dem Sondergut; nur hier findet sich im NT das im Griechischen für den Zweifel übliche Verb διστάζειν) als exemplarische Szenen einen besonderen Akzent und lassen das Thema Glaube und Zweifel als einen wesentlichen Bestandteil der Theologie des ersten Evangeliums erkennen. Das zeigt sich auch an der Erweiterung durch verwandte Wortfelder (besonders ὀλιγοπιστία κτλ.). An der Begegnungsszene der Jünger mit dem Auferstanden arbeitet S. überzeugend heraus, »dass Matthäus den Glauben nicht auf einen propositionalen Gehalt ausgerichtet sieht, der für wahr zu halten wäre, sondern absolut setzt bzw. unmittelbar auf Christus bezieht« (167). Zweifel meint im Rahmen dieser Glaubensvorstellung »einen Existenzmodus, in dem die Intentionalität des Glaubens uneindeutig wird« (ebd.). Solcher Zweifel erfasst am Ende alle Jünger, nicht nur einige von ihnen (S. spricht hier treffend von einem »Figurenkollektiv«, 164). Er wird auch nicht in der Begegnung mit Jesus ein für alle Mal überwunden, sondern durch das vollmächtige Auftragswort Jesu an sie neu kontextualisiert (168f.).

Ein Glanzstück und in gewisser Weise der Höhepunkt der ganzen Arbeit ist das Kapitel zum Johannesevangelium (186–253). Auch hier beschränkt sich S. im Wesentlichen auf eine einzige Perikope, die Geschichte vom zweifelnden Thomas (Joh 20,24–29), entfaltet aber an dieser Erzählfigur den Kernbestand johanneischen Glaubens- und Zweifelsverständnisses. »Das Johannesevangelium verfolgt eine ›Strategie des Glaubens‹, und die innere Dynamik der Figur des Thomas korrespondiert mit dieser narrativen Strategie.« (250) Dabei bezieht er nicht bloß die weiteren Thomas-Perikopen ein (Joh 11,16; 14,5–7; 21,2; schon im Namen »Zwilling« deute sich die Bedeutung dieser Figur für das Zweifelsthema an, wie bereits die altkirchliche Auslegung bemerkte, 226f.), sondern arbeitet die Spannung von sehen und glauben als konstitutiv für die Rezeptionsgeschichte des Johannesevangeliums wie im Grunde auch für den christlichen Glauben an sich heraus.

Es folgen Kapitel zum Jakobusbrief (254–310), zum Hirten des Hermas (311–335) und zum Hebräerbrief (336–382), auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann. Am Ende steht eine Synthese (383–432), in der S. den Versuch unternimmt, so etwas wie eine Typologie des Zweifels im Neuen Testament zu erstellen und Impulse für »eine vom Neuen Testament inspirierte ›Theologie des Zweifels‹« abzuleiten (383). An der Vielfalt der neutestamentlichen Belege zum Thema lassen sich sechs verschiedene Akzentsetzungen beobachten: 1. Zweifel als unmögliche Möglichkeit (bes. bei Paulus), 2. Zweifel als intellektuelle Herausforderung (Hebräerbrief), 3. Zweifel als theoretisches Problem (Johannes), 4. Zweifel als ethisches Problem (Jakobusbrief), 5. Zweifel als Existenzial (Synoptiker), 6. Zweifel als ekklesiologisches Charakteristikum (Matthäus). Die Pragmatik der Zweifelsdiskurse führt je nach den herangezogenen Schriften in verschiedene frühchristliche Lebenskontexte und richtet sich auf unterschiedliche Gegenstände und Bezugsgrößen. Noch vielfältiger sind die Bewältigungsstrategien, mit denen dem Zweifel im frühen Christentum begegnet wird (18 verschiedene werden aufgezählt). Gleichwohl fragt S. abschließend nach dem potentiellen theologischen Ertrag der exegetischen Arbeit, will sich also nicht mit einem heute möglicherweise populären »Lob des Zweifels« in all seiner bunten Vielfalt als Ziel neutestamentlicher Exegese zufriedengeben. Auch wenn sich aus diesem Anliegen kein systematischer Gesamtentwurf ergeben kann, so ist doch ausdrücklich zu begrüßen, dass hier detaillierte exegetische Befunde mit denkerischen und durchaus auch existentiellen Problemen einer gegenwartsbezogenen Theologie verknüpft werden.

Die Arbeit zeichnet sich insgesamt durch exegetische Sorgfalt und theologische Reflexionsfähigkeit aus, immer im Gespräch mit der aktuellen und älteren, deutschsprachigen wie internationalen Sekundärliteratur. Das zeigt sich etwa im Kapitel zum Jakobusbrief, wo S. zu den Einleitungsfragen kundig Position bezieht (auch wenn man ihm hier nicht in allem folgen möchte) und die in der jüngeren Forschung wieder erkannte theologische Bedeutung und literarische Qualität dieser Schrift für seine Untersuchungen fruchtbar macht. Auch das Johannes-Kapitel zeugt von souveräner Beherrschung der aktuellen, derzeit extensiv betriebenen Johannesforschung und zugleich von der Fähigkeit, die für die eigene Sicht maßgeblichen Befunde herauszuarbeiten.