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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

873-875

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Vogt, Markus u. Maximilian Gigl [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Christentum und moderne Lebenswelten. Ein Spannungsfeld voller Ambivalenzen.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2021. XXX, 339 S. m. Abb. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 19. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783506791047.

Rezensent:

Georg Kalinna

Der Sammelband vereint vierundzwanzig Vorträge, die im Rahmen der Eugen Biser Lectures an der LMU München 2019/20 gehalten wurden, und Eugen Bisers (1918–2014) Bestreben aufnehmen, den Ambivalenzen der Moderne nachzugehen. Die Moderne wird hierzu in zehn Teilaspekte unterteilt und je von zwei bis vier Beiträgen analysiert: Christentum und moderne Lebenswelt, Desakralisierung und Sakralisierung, Individualisierung, Beschleunigung, Digitalisierung, Ökonomisierung, Re-Nationalisierung, Befriedung, Entwicklung, Medikalisierung. Diese breit gefächerten Themen bieten Gelegenheit für vielfältige interessante Thesen und Analysen. Zugleich zeugt die Themenauswahl davon, dass sich ein Band zur Moderne mindestens implizit zu seinem Gegenstand normativ verhalten muss. Relativ unproblematisch sind hierbei die Verortung der Kirche und des christlichen Glaubens in spätmodernen Lebenswelten, Individualisierung, Digitalisierung, Befriedung und die Deutung von Entwicklung.

Gert Pickel analysiert den gegenwärtigen Stand der Kirchen- und Religionssoziologie und gibt entgegen einem Trend, Religion vor allem liturgisch-kultisch zu deuten, zu Bedenken, dass gerade die soziale Seite des Religiösen in ihren diakonischen und seelsorgerlichen Formen gegenwärtig gefragt ist (3–14). Markus Vogt (15–40) geht in seinem Beitrag dem wechselseitig kritischen Potential von Christentum und Moderne nach, um zu zeigen, dass der Verlust kirchlichen Einflusses darauf beruht, dass die Kirche die Moderne lediglich in einer halbierten Form rezipiert hat. Ausgehend von einer vierphasigen Einteilung der Individualisierung kritisieren Thomas Kron und Lars Winter das neoliberale und gegenwärtige transhumanistische Individualisierungsparadigma. Konrad Hilpert (102–119) hebt hervor, dass die Geschichte der Individualisierung als »Konzentration auf die Freiheit des Individuums« (111) nicht lediglich als Verlust zu schreiben, wohl aber in ihren Ambivalenzen zu bearbeiten ist. Armin Grundwald (155–162) macht sich dafür stark, Digitalisierung nicht als eine Art Naturereignis zu deuten, sondern als einen Prozess, der von Entscheidungen geprägt ist, in den Organisationen und Menschen gestaltend eingreifen. Volker Stümke (268–284) entwickelt ein Modell, das religionsinterne gewalt- oder friedensbefördernde Potentiale herausarbeitet und dabei Religion nicht auf deren Funktion re-duzieren noch sie essentialistisch behandeln will.

Bei den Themen Medikalisierung, Beschleunigung, Re-Nationalisierung und Ökonomisierung stellt sich schon eher die Frage, ob wertgeladene, teils politisch besetzte Begriffe, analytischen Beschreibungswert haben.

Kurz, aber besonders informativ ist Johanna Annesers empirisch gesättigte Analyse gegenwärtiger Sterbekultur, der Hospizbewegung und der Palliativbewegung (309–316). Eckhard Fricks (317–330) Beitrag ergänzt ihre Darstellung um eine von Luhmann und Foucault gesättigte Analyse der Medikalisierung, deren Schnittpunkt Frick theologieintern im Feld der Spiritual Care verortet. Karlheinz Geißler (123–139) zeichnet nach, welchen Einfluss das Zeitverständnis auf die Anthropologie und die Gesellschaft hat, welche ideologischen Programme hinter unterschiedlichen Zeitverständnissen stehen und wie sie auf Individuen einwirken. Hans Joachim Höhn (140–151) geht davon aus, dass die Gegenwart durch einen kinetischen Imperativ bestimmt ist, der das Neue normativ setzt. Religion hat hierbei die Aufgabe, den Umgang mit Ungleichzeitigkeit zu reflektieren und einzuüben, metaphorisch analog dem Schlagmann beim Rudern, der weder rudert noch das Boot auf Kurs hält, aber den Takt angibt. Paul Kirchhof skizziert die Ambivalenz des Nationengedankens für die demokratische Selbstbestimmung (203–213). Als Friedens- und demokratische Mitbestimmungsgemeinschaft sei die Nation keineswegs erledigt, sofern sie den Menschen »in seiner Würde und Freiheit« in den Mittelpunkt stelle (213). Walter Lesch (214–227) geht besonders dem Verhältnis von Nation und Religion nach. Religion dient ihm im Idealfall als »Radikalisierungsprophylaxe im Umgang mit dem Nationalen« (224). Karl Homann (183–191) möchte die Marktwirtschaft rehabilitieren und kritisiert vor diesem Hintergrund eine unreflektierte Rede von der Ökonomisierung der Lebensbereiche. Michael Schramm (192–202) tritt dafür ein, »genau hin[zu]schauen« (199), wenn von Ökonomisierung die Rede ist. Vor allem sollte es darum gehen, gesellschaftlich auszuhandeln, welche Frage ökonomisch zu behandeln ist und welche anderen Logiken folgen sollte.

Deckt der Band bereits thematisch eine große Breite ab, bieten die Beiträge auch personell ein ökumenisch und interdisziplinär weit gefächertes Tableau. Die Verschränkung von Wissenschaft und anderen Professionen ist hierfür bereichernd. Das gilt für den Beitrag von Johanna Anneser (s.o.) ebenso wie für Kathrin Zimmer, die Best-Practice-Beispiele der Digitalisierung darstellt (173–182). Markus Blume, Generalsekretär der CSU, stellt Überlegungen auf der Linie eines freiheitlichen Verfassungspatriotismus an (228–236). Klaus Naumann, General a. D. des Heeres der Bundeswehr, referiert über die Anwendbarkeit und Transformation der Lehre vom Gerechten Krieg zum Paradigma des Gerechten Friedens (237–245).

Statt einer Sektion zu Säkularisierung werden die beiden entsprechenden Beiträge unter das Paradigma der Sakralisierung und Desakralisierung gestellt. Die Artikel von Maximilian Gigl (43–56) und Johannes Först (57–72) können so originelle und tiefenscharfe Perspektiven auf unterschiedliche Prozesse werfen, die mit dem Religionsbegriff fluide und differenziert umgehen.

Doch womöglich holt das Säkularisierungsparadigma die Gesamtkonzeption an anderer Stelle wieder ein. Denn alle Beiträge arbeiten sich an der Erfahrung schwindender Religiosität ebenso ab wie an der Frage, was das für die Moderne bedeutet. Sie suchen durchgängig nach dem, was bleibt.

Für Vogt ist es die christliche Hoffnung als »existenzielle Antriebsquelle« (36), die sich von Fortschrittsutopien ebenso unterscheidet wie von Quietismus. Für Gigl ist es die »Heiligkeit der Person in ihrer unverletzlichen Würde« (53). Für Kron und Winter ist es das Verständnis des Menschen als eines bedürfnisorientierten Wesens. Für Höhn ist es das entschleunigende Potential religiöser Zeitlichkeitsvorstellungen. Für Kirchof ist es das in Christentum und Aufklärung wurzelnde, im Grundgesetz verwirklichte Menschenbild. Für Frick ist es die »Subjekthaftigkeit von Kranken und Gesunden« (325).

Wer die Moderne von vornherein unter das Rubrum der »Ambivalenzen« stellt, orientiert womöglich die Blickrichtung eher in die Richtung der problematischen Aspekte, u.U. wider Willen. Und so wird man fragen müssen: Geht es dem Band um die Ambivalenz moderner Gesellschaftsformationen oder um die Probleme der Moderne? Und sind letztere auf christliche Lösungen angewiesen?

Die Herausgeber halten hierzu deutlich fest, »dass Theologie und Kirche zugleich Teil des Problems und Teil der Lösung« (XIV) sein könnten. Gegen einen »Rückzug in fundamentalistisch geschlossene Denkmodelle« (XVII) wehren sie sich entschieden, ein Motiv, das sich durch die Beiträge zieht.

Und doch entsteht der Eindruck, dass progressive Theorieangebote wenig in Anspruch genommen werden, um die Ambivalenzen der Moderne zu bearbeiten. Eine klare Ausnahme ist Wolfgang Sachs’ (285–297) Hoffnung darauf, dass sich für die Entwicklungslogik das »Narrativ der Solidarität« (296) durchsetzt. Lauter klingen aber andere Töne, etwa wenn man liest, dass die Nation rehabilitiert werden soll (»Das Wort hat gelitten, die Idee bleibt großartig«, 205); wenn Marktwirtschaft und Kapitalismus – ausdrücklich nicht erst die soziale Marktwirtschaft – als »moralisches Unternehmen« (191) gegen Kritik in Schutz genommen wird; wenn der Begriff der »Leitkultur« am besten zum Ausdruck bringen soll, was mit einer freiheitlich-demokratischen Identität gemeint ist; wenn man die Vermutung aufgreift, dass der »modernisierungsinduzierte Verfall des Christentums« zur »Erosion des modernen Rechtsstaates« führen könne (59); oder wenn es heißt, dass in der »Geschlechterordnung« »Beliebigkeit« einziehe, sobald sich nunmehr »alle Menschen ein beliebiges Geschlecht zuschreiben können« (91).

Diese Profilierung nimmt der analytischen Schärfe der Beiträge nichts. Sie sei aber als Leseeindruck markiert. Interessierte findet in dem Band in jedem Fall einen lesenswerten Einblick in eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe mit vielen prominenten Stimmen, besonders solchen aus dem Bereich des römischen Katholizismus, die ein spannendes Thema mit einem weiten Fokus scharf stellen.