Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2023

Spalte:

827-830

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Tucker, Miika

Titel/Untertitel:

The Septuagint of Jeremiah. A Study in Translation Technique and Recensions.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 392 S. m. 41 Tab. = De Septuaginta Investigationes, 15. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525558676.

Rezensent:

Georg Fischer SJ

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Dissertation, die 2020 an der Universität in Helsinki verteidigt wurde. Diese Institution ist bekannt für ihre vielen und guten Studien und Forscher zur Septuaginta, und die Arbeit von Miika Tucker reiht sich darin ein. Sein Ziel war, mit Hilfe einer Untersuchung der Übersetzungstechnik die griechische Wiedergabe des Jeremiabuches zu charakterisieren (11), mit besonderer Berücksichtigung der weitgehend anerkannten Verschiedenheiten zwischen Jer 1–28 (= a’) und Jer 29–52 (b’). Über frühere Studien hinaus legt er sein Augenmerk stärker auf syntaktische und semantische Aspekte (17, auch 69 und öfter), d.h. er berücksichtigt deutlich mehr die Kontexte und die Möglichkeiten der Wortwahl. Für sein Vorgehen betrachtet er drei Faktoren als wesentlich: die hebräische Vorlage, die griechische Sprache und die Besonderheiten des Übersetzers. Ein weiteres Anliegen ist ihm die Klärung der Beziehung zur και-γε-Tradition (12).

T.s Arbeit ist ganz klar aufgebaut. Er gibt für jedes Kapitel einen Überblick zu Beginn, dann eine Präsentation der Untersuchungen und am Ende eine Zusammenfassung sowie dazwischen viele Tabellen, die die Befunde anschaulich präsentieren. Seine Analysen sind sehr präzise, berücksichtigen viele Aspekte und liefern neue, interessante Ergebnisse. So genau wie er hat bisher niemand dieses Thema behandelt.

Die Einleitung (Kapitel 1) gibt einen kurzen Vorblick in das zu Erwartende. T. ist zuversichtlich, dass auf der Basis der Kenntnis des Übersetzungscharakters eine Rekonstruktion der hebräischen Vorlage möglich ist (16). Dann folgt in Kapitel 2 eine längere Forschungsgeschichte (21–67) zum hebräischen Text des Jeremiabuches, zu dessen griechischer Übersetzung sowie deren bisectioning theories, insbesondere der Diskussion, ob es sich bei a’ und b’ um zwei Übersetzer oder in b‘ auch um einen Revisor handelt. T. ist gut informiert über die wichtigen Punkte in der Auseinandersetzung und bringt viele Autoren mit deren Positionen ein. Kapitel 3 (69–83) ist der Methodologie gewidmet, mit spezieller Aufmerksamkeit auch auf Revisionen.

Vor dem Hintergrund dieser Klärungen geht T. dann in drei Kapiteln systematisch Züge an, die vor allem im Hinblick auf Übersetzungsunterschiede innerhalb von Jer aufschlussreich sind. Kapitel 4 (85–136) untersucht die Infinitive; dabei scheint es, dass im Verlauf des Buches του + Infinitiv zunehmend weniger verwendet wird (s. die Tabelle 6 auf S. 117, wiederholt auf S. 120 und 134). Die Tabellen 4 und 5 (115–116) zeigen überdies die Verteilung über die Kapitel hinweg auf; dabei ragen Jer 18 mit 12 Vorkommen für τοῦ + Infinitiv sowie Jer 39 und 51 mit 8 und 14 Belegen ohne τοῦ heraus. T. wertet die unregelmäßige Verteilung ähnlich wie Hermann-Josef Stipp als Zeichen dafür, dass der Übersetzer seine Tätigkeit unterbrach, eine Pause machte und nach Jer 28, nun auch mit mehr Erfahrung, zur üblicheren griechischen Ausdrucksweise wechselt.

Kapitel 5 bespricht weitere syntaktische Züge, unter ihnen die Wiedergabe des verbindenden ־ו, die meist mit καί erfolgt, nämlich ca. 2400 Mal. Die rund 200 anderen Belege sind ungleich verteilt, 150 auf a’ und 50 auf b’, was proportional allen 7,7 bzw. allen 18,6 Versen entspricht. Noch stärkere Unterschiede weisen die Übersetzungen von יכ, יניעב und יתלבל auf. In der Auswertung (211) versucht T. dies teils mit »natürlichem Griechisch«, teils mit dem Bestreben nach wörtlicher Wiedergabe zu erklären, wobei Anzeichen für beides sowohl in a’ als auch in b’ zu finden sind. In Letzterem gibt es einerseits Übereinstimmungen, anderseits Abweichungen von dem, was bei der και-γε-Überlieferung üblich ist.

Im 6. Kapitel bespricht T. lexikalische Äquivalente, darunter vier Wendungen (wie »andere Götter«, oder die Redeeinleitungsformeln), zwei Wurzeln (דדשׁ und םמשׁ) sowie 21 Einzelwörter, alphabetisch geordnet. Dabei untergliedert er seine Untersuchung manchmal noch weiter, so etwa bezüglich der Bedeutung bei עדיund בשׁי (243–244 bzw. 252), oder bei Letzterem noch partizipiale Verwendung (246). Unterschiede zeigen sich auch z. B. bei םחנ, wenn Jhwh Subjekt ist (269), oder bei דבע bezüglich der Objekte (275, Tab. 29 und 30; je nachdem, ob Götter oder Menschen). Manche Verteilungen sind exklusiv, so wird für Freude in a’ exklusiv χαίρω und χαρά verwendet (297, Tab. 39), oder es erscheinen ausgeprägte Akzentuierungen, etwa für die unterschiedlichen Wiedergaben von רקשׁ mit je ca. 80 % (309, Tab. 41).

Den Fähigkeiten und der Einstellung des Übersetzers widmet T. Kapitel 7 (ab 311, »Competence and Disposition«), wobei er besonders die Gründe für die Unterschiede im Auge hat. Hierunter fallen die häufigen Transliterationen, verschiedene Deutungen des Textes, z.B. aufgrund anderer Vokalisierung, eine abweichende hebräische Vorlage und schließlich »freie Übersetzung« als Zeichen für gute Kompetenz (ab 324). Für Letzteres sprechen die formal nicht entsprechenden Wiedergaben von Infinitiven und rhetorischen Fragen sowie die Umkehrungen ins Gegenteil (331–332); weil dies nur wenig passiert, schließt T., dass der Übersetzer sehr treu gegenüber seiner Vorlage war und sie nicht absichtlich ändern wollte, er also kein Herausgeber war (»editor« 334).

Kapitel 8 fokussiert auf das spezielle Forschungsinteresse nach den Ähnlichkeiten und Unterschieden bei a’ und b’. Dabei nimmt T. den Befund in b’ als Ausgangspunkt (336) und stellt Folgendes fest: Im zweiten Teil von Jer LXX gibt es verstärkt »more natural Greek expressions«, seltene oder einmalige Ausdrücke, andere Äquivalente, stärkere formale Nähe zum hebräischen Text, größere Konsistenz und den Kontext berücksichtigende Wiedergaben. Für die üblicheren griechischen Ausdrücke sieht T. zwei Möglichkeiten der Erklärung: Entweder stammen sie vom Revisor, oder sie sind noch Überreste der alten griechischen Übersetzung (350). Die zweite Annahme würde ein Motiv für die Revision ergeben, nämlich die inkonsistenten Wiedergaben im Laufe der Übersetzung zu korrigieren (351). Zusätzlich sei mit Veränderungen durch die Textentwicklung im Hebräischen zu rechnen. Die Berührungen mit der και-γε-Tradition sind viele, müssen aber wegen der teils einzigartigen und sich von ihr abhebenden Ausdrücke in einem frühen Stadium erfolgt sein. So erweist sich die Revision als zugleich inkonsistent und absichtlich (352). Im neunten Kapitel (»Conclusions«) fasst T. dann wichtige Ergebnisse nochmals knapp zusammen. Er rechnet mit einem Revisor, der in b’ in Richtung größerer Nähe zum hebräischen Text korrigieren wollte, dies aber nicht überall systematisch durchgeführt hat (356).

T.s äußerst penible Studie ergibt ein sehr deutliches Bild von Jer LXX, in einer Klarheit, wie sie so bisher nicht zu sehen war. Unter vielen Aspekten gibt es eindeutige Unterschiede zwischen a’ und b’, doch Veränderung und Übergang in Jer 29 sind fließend, weil es in jenem Kapitel auch Anzeichen für beide Weisen von Übersetzungen bzw. Bearbeitung gibt.

Der von ihm erhobene Befund gibt aber mehrfach zu denken. Weder in a’ noch in b’ sind die Wiedergaben konsistent. T. rechnet zudem damit, dass die Übersetzung sowohl wörtlich sein will als auch frei sein kann – wie lässt sich dazwischen unterscheiden, und darf man dann noch beim Übersetzer grundsätzlich getreue Wiedergaben annehmen? Sprechen nicht die vielen im 7. Kapitel erwähnten Abweichungen vom bezeugten und weitgehend auch in der Vorlage zu vermutenden hebräischen Text dagegen? Zudem ergibt sich die Frage, warum die Revision nur in b’ erfolgte und dort teils manches aus der alten Übersetzung stehen ließ, anderes aber korrigierte. Wie schon bei E. Tov früher (79–80) kommt es zu widersprüchlichen Ergebnissen für die Deutung der Unterschiede in b’ und zu sehr komplexen Annahmen bezüglich der Textentwicklung.

All dies sind Anzeichen, dass, wie T. selbst schreibt (350: »keine einfache Lösung«), der Schlüssel zur Erklärung der Texte von Jer noch nicht gefunden ist. Dafür gälte es, den Befund der Studie von Oliver Glanz aufzunehmen (Understanding Participant-Reference Shifts in the Book of Jeremiah, SSN 60, Leiden 2012), der klar nachweist, dass Jer LXX die am meisten abweichende Textform darstellt. Auch wäre die Interpretation von 4Q71 mehr zu diskutieren (31); dieses Fragment weist in den Rekonstruktionen eine völlig irreguläre Zeilenlänge auf und geht ebenso mit MT überein, wie Armin Lange gleichfalls bestätigt hat.

In der vorliegenden Arbeit entsteht der Eindruck, dass das Betonen der wörtlichen Wiedergabe und vielfach auch von formalen Entsprechungen durch den Übersetzer die entgegenstehenden Beobachtungen und Argumente zu wenig berücksichtigt. Dabei ist das Bestreben zu spüren, für den Prozess des Übersetzens möglichst weitgehend die Annahme von herausgeberischer Tätigkeit bei Jer LXX zu vermeiden (334). Doch deuten gerade die von T. herausgearbeiteten Befunde deutlich in die Richtung von bewusster Bearbeitung und von Tendenzen bei der Wiedergabe des hebräischen Textes. Zudem ist das Schwanken zwischen teils großer Treue bei der Übersetzung und oft starken Abweichungen in Rechnung zu stellen. Der griechische Text von Jer zeigt Widersprüche, seine Überlieferung ist nicht so einheitlich wie vorgegeben (69), und damit bleibt er ein Rätsel.