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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

815-817

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wrogemann, Henning

Titel/Untertitel:

Bibel und Koran. Christen und Muslime in Dialog und Differenz.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 272 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783374072859.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Das Buch von Henning Wrogemann liest sich als ein großes Plädoyer für zweite (und dritte) differenzierende wie horizonterweiternde Blicke auf Dialogbeziehungen und -prozesse. Einen Schwerpunkt bilden Stellungnahmen zu kirchlichen Verständigungsprozessen zur Frage der theologischen Verhältnisbestimmung zwischen Christen und Muslimen (»Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen«, Evangelische Kirche im Rheinland, 2015; »Christen und Muslime. Gesprächspapier zu einer theologischen Wegbestimmung«, badische Landeskirche, 2018). Gegenüber einer monolinearen, statischen, flächigen und permanenten Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Islam, wie er sie in den genannten kirchlichen Papieren unterlegt sieht, plädiert W. für multiple, dynamische, partielle und zeitlich begrenzte Verhältnisbeschreibungen (26).

Damit ist die Richtung angezeigt. Es geht um »die Pluralität verschiedener Letztbegründungsmuster« und den Umgang damit. Dieser kann (und muss) nach Ausgangssituationen, Intentionen, hermeneutischen Zugängen, Zielen und Konsequenzen differenziert werden. Entscheidend ist zudem, dass interreligiöse Beziehung nie einlinig ist, sondern gleichsam ein Bündel verschiedener, gleichzeitig wirksamer Verhältnisse, ein »polyrelationales Phänomen« (ebd.). Es kommt auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zur Anerkennung, zur Tolerierung und zur Zurückweisung von je unterschiedlichen Aspekten des Anderen. Dem entspricht ein »polyphones Verstehen« von Texten, das sich z. B. in der Gleichzeitigkeit von Tolerierung, theologischer Zurückweisung und ethischer Würdigung einzelner Motive äußern kann (55 ff. zu Sure 3,64).

Damit einher geht eine Differenzierung des Dialogbegriffs nach Dialogformen bzw. -ausrichtungen, die sich als eine Art Leitmotiv durch das Buch zieht, das mit unterschiedlichen Themen und Perspektiven kombiniert wird: Unterschieden werden – neben pragmatischen und theologisch-religiösen Dialogen – näherhin Kenntnis-Dialog (Ziel: Mehr an Information, die jeweiligen Profile werden als gegeben betrachtet), Konsens-Dialog (assimilative oder Konvergenz-Hermeneutik, Ziel: Abbau von Spannungen und größere religiöse Nähe, die verschiedenen Profile werden eher als zu überwindendes Problem betrachtet) und Kontrovers-Dialog (argumentative Hermeneutik, Ziel: Entscheidung über die in Rede stehende religiöse Wahrheit, ohne Manipulation oder Druck, die Profile werden als Auftrag betrachtet).

Entfaltet werden die Themen in 18 Beiträgen – davon drei bisher unveröffentlicht –, die in drei Abschnitte gruppiert sind. »Streiflichter zum Verhältnis von Koran und Neuem Testament« gehen auf Themen ein, die für das Verständnis koranischer Perspektiven auf andere Religionen und damit der »Brille«, durch die viele Muslime Christen wahrnehmen, besonders bedeutsam sind. In Bezug auf die Selbigkeit Gottes, die vom badischen Papier her unter dem Gesichtspunkt »Liebe Gottes« (2.), von Sure 3,64 her (»gemeinsames Wort« zwischen Christen und Muslimen) fokussiert auf den tauhid (Einzigkeit Gottes; 3.) und breiter von den Gottesverständnissen her (5.) kritisch beleuchtet wird, ist das Ergebnis: Ungeachtet der Überzeugung, dass es nur einen Gott geben kann, handelt es sich um zwei sich gegenseitig ausschließende Gottesbilder. Die Identität eines Subjektes erfordert »ein gewisses Maß an Kohärenz« (41.92), die hier nicht gegeben ist. Vertieft wird die koranische Hermeneutik des religiös Anderen anhand Sure 5,48 (4.), später exemplifiziert mit Blick auf Ägypten (10.)

Vier Texte thematisieren »Interreligiöse Koexistenz in raumtheoretischer Perspektive«. Sie nehmen die Komplexität konkreter interreligiöser Beziehungen wahr, die sich immer auch »in körperlich-räumlich-medialer Gestalt« ereignen und »Relationierungen im Feld konkurrierender Geltungs- und Machtansprüche« darstellen (161). Räume (privat, gemeinschaftlich, öffentlich, universitär, staatlich usw.) beeinflussen und formatieren Dialoge, sie distanzieren etwa (Universität) oder sind Orte der Hingabe. Institutionalisierte Räume können Kontrolle schaffen oder Begegnung ermöglichen. Religiöse Topografien kennen dämonologische Deutungen, Kraftorte, ordnende Metaphoriken usw.

Die Differenzierungen und Weitungen dieser Beiträge sind besonders instruktiv, sie verlassen gleichsam den geschützten Rahmen akademischer oder kirchlicher Dialogkonstellationen und entlarven die nivellierende Flächigkeit gängiger religionstheologischer Vorstellungen als zu kognitiv und statisch. Zwischen religiös-kulturellen Wir-Formationen gibt es vielfältige Konkurrenzverhältnisse, physische wie soziale Raumarrangements spielen ebenso wie Narrative, Symbole, Vorstellungen jenseits der Heiligen Schriften eine wichtige Rolle. Religion ist eben keine individuelle Angelegenheit von privater Überzeugung und innerer Erfahrung, losgelöst von Politik und Ökonomie; Geltungsansprüche werden auf verschiedenen Ebenen (Mikro-, Meso-, Makroebene) und in Medien artikuliert. Christliche Zugeständnisse, etwa es finde sich auch in anderen Religionen »Heil«, adressieren daher die eigentlichen Problemlagen gar nicht, sie bleiben »Thesen im leeren Raum« (131; »8. Religionstheologie im Nirgendwo?«). Die These »Je näher, desto friedlicher« blendet Faktoren wie Macht und Kontroversität aus (141). Weltanschauliche »Abrüstung« und Verzicht auf so genannte »Absolutheits«-Ansprüche erscheinen unter diesen Voraussetzungen als abstrakt, kaum als überzeugende Mittel zur Beförderung friedlicher Koexistenz (162).

Spannend ist vor dem Hintergrund auch der genauere Blick auf gängige räumlich konnotierte Metaphern im Dialog: Nachbarschaft, Weggemeinschaft, Gastfreundschaft (»7. Problematische Nähe?«). Wrogemann plädiert mit der Formel »Kontakt-halten-in-Distanz« dafür, nicht einseitig möglichst große Nähe herstellen zu wollen, nicht das Partikulare abzuqualifizieren, sondern in der respektvollen Distanz (nicht Beziehungslosigkeit!) die Interaktionen alltagsnäher, realistischer und nicht zuletzt auch interessanter zu gestalten (124 ff.).

Teil III »Konstruktiver Umgang mit Differenz« greift manche der Themen erneut auf und fügt weitere hinzu. Dialog in einer bestimmten Formatierung als besonders moralisches Handeln auszugeben wird hinsichtlich unangebrachter religiöser Überhöhung wie auch des Versuchs diskursiver Machtausübung kritisiert (11.). Mission (12. islamisch; 17. christlich) und Konversion (wissenschaftlich, aber auch in kirchlichen Bereichen; 15.) kommen vor; zu Hagar und Ismael (Jahreslosung 2023) werden die Profile der biblischen Geschichte und der koranischen Referenzen skizziert. Als Alternative zu Tendenzen christlicher Selbstrelativierung wird zum Schluss der Ansatz einer umfassenderen »Theologie Interreligiöser Beziehungen« vorgeschlagen (18.).

Das Buch bietet in vielfältiger Weise »theologische Klärungs-hilfe in einem teilweise schwierigen Terrain« (Zielformulierung 5). Es hinterfragt auf unterschiedlichen Ebenen und thematischen Terrains gängige Herangehensweisen und Voreingenommenheiten durch sorgfältige Unterscheidungen und interkulturelle Perspektiven mit Beispielen aus Ägypten, Türkei, Palästina, Indien, Pakistan u. a.

W. empfiehlt eine Theologie Interreligiöser Beziehungen, die sich auf das eigene theologische Profil besinnt und die Aspekte der Motive, der Räume, der Akteure, der Machtkonstellationen, der Ziele usw. mit reflektiert. Letztbegründungsmuster sind nicht Hindernisse, sondern Voraussetzungen und unabdingbare Ressource. In christlicher Perspektive halten sie Potenziale der Wertschätzung, der Hingabe, aber auch der kritischen und selbstkritischen Wahrnehmung bereit, die zu einem konstruktiven, liebevollen und gelassenen Umgang mit sich selbst und miteinander anleiten.