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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

811-813

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Khalfaoui, Mouez

Titel/Untertitel:

Islamisches Recht, Scharia und Ethik. Eine europäische Perspektive.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2022. 320 S. = Theologie, Bildung, Ethik und Recht des Islam, 5. Kart. EUR 64,00. ISBN 9783848778430.

Rezensent:

Carsten Polanz

Der deutsch-tunesische Autor Mouez Khalfaoui ist Professor für Islamisches Recht und Stellvertretender Direktor des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Tübingen. Das Buch ist auch das Ergebnis seiner »reflektierte[n] Auseinandersetzung mit dem eigenen religiösen, rechtlichen und kulturellen Erbe« (16), bei der er moderne westliche mit klassisch-muslimischen Forschungsansätzen zu verbinden sucht (138). K. begreift Europa trotz mancher Rückschläge als »sehr erfolgreiches Modell säkularer Gesellschaftskonzepte« (17) und als Chance für Muslime, sich frei mit der eigenen und anderen Rechtstraditionen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig wird deutlich, dass öffentlich sichtbare islamische Praktiken und Symbole für Europa auch neue Fragen im Umgang mit religiösem Pluralismus aufwerfen.

Im Rahmen seines problemorientierten Ansatzes analysiert K. ein breites Spektrum an Herausforderungen, vor denen Muslime im säkularen Europa angesichts ihres vormodernen islamischen Rechtsdenkens stehen und die zeitgenössische Denker zu unterschiedlichen Reformansätzen führen. Das Buch umfasst 14 Kapitel; manche sind überarbeitete frühere Beiträge K.s. Im ersten Teil (Kap. 1–11) liegt der Fokus auf theoretischen Grundlagen des islamischen Rechts, seiner Wahrnehmung unter Muslimen und in der (historisch-kritischen) Forschung sowie dem Verhältnis zwischen religiösen und säkularen Rechtskonzepten. Im zweiten (kürzeren) Teil (Kap. 12–14) geht es um ethische Themen wie Arbeit, Armut und Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Zu Beginn erfährt der Leser Grundsätzliches zur Unterscheidung zwischen der Scharia und der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh), gottesdienstlichen/rituellen (‘ibadāt) und sozialen Angelegenheiten (muʿāmalāt) und zum Zusammenspiel von Rechtsschulen, Muftis, Richtern und anderen Funktionsträgern. Kapitel 2 zur Rolle der Scharia in den muslimischen Staaten verdeutlicht, dass es nicht das eine, für alle verbindliche islamische Recht gibt und dass das Verhältnis zwischen Staat und Religion auch durch den Einfluss säkularen Rechts seit der Kolonialzeit äußerst komplex ist.

K. geht davon aus, dass die Scharia von vielen Muslimen bis heute als Ausdruck des göttlichen Willens mit Implikationen für das Leben nach dem Tod verstanden wird und damit eine identitätsstiftende Funktion behält. Populäre Forderungen nach ihrer Einführung könnten auch in fehlender eigener Alltagserfahrung mit ihr begründet sein (65). In Kapitel 3 konstatiert K. bei den meisten Organisationen hierzulande eine positive Grundhaltung zum säkularen Rechtsstaat. Allerdings unterscheidet er hier »zwischen bedingungsloser und bedingter Loyalität« (77). Bei der Einordnung der »Islamischen Charta« des Zentralrats der Muslime (ZMD) von 2003 vermisst man kritische Anfragen. So sieht die Charta z. B. nur den »Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung« im Einklang mit dem Islam, ohne die damit angedeuteten Konfliktpunkte offen zu benennen.

Dass der säkulare Rechtsstaat nicht nur durch militante Salafisten, sondern auch durch die langfristigen Strategien so genannter legalistischer Islamisten herausgefordert wird, hätte K. klarer zur Sprache bringen können. K. zeigt in Kapitel 9 zwar überzeugend auf, warum partikulare Ansätze wie das islamische Minderheitenrecht Isolation statt Integration fördern, und streift auch das seit 1991 von Bassam Tibi verfochtene Konzept eines »Euro-Islam«. Allerdings finden jüngere Beiträge Tibis (seit 2016) keine Berücksichtigung, in denen er sein Projekt für gescheitert erklärt, parallelgesellschaftliche Tendenzen und eine rein pragmatische Anpassung an europäische Gesetze beklagt sowie scharfe Kritik an der auch politisch geförderten Dominanz von DITIB und anderen Dachverbänden übt.

Bei der Anwendung islamischen Rechts in Deutschland sieht K. im rituellen Bereich mit wenigen Ausnahmen (u. a. Bestattungsriten und Schächten) kaum Probleme. Keinen Platz sieht er für das islamische Strafrecht, das in seinem Buch (zu) wenig Berücksichtigung findet. Gleichzeitig sieht er in familien- und erbrechtlichen Fragen durchaus Möglichkeiten, im Rahmen des Internationalen Privatrechts religiös (und damit auch von der Scharia) geprägtes Recht des jeweiligen Herkunftslandes anzuwenden – sofern ein hin­reichender Auslandsbezug vorliegt und die konkreten Bestimmungen nicht der öffentlichen Ordnung (z. B. den Grundrechten) widersprechen (Kap. 4). Für die Einführung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit (wie in Großbritannien) sieht K. hierzulande keine Möglichkeit und auch keine Notwendigkeit. Das säkulare Recht biete Muslimen mehr Freiheiten und Schutz als die teilweise auf der Scharia basierenden Gesetze einzelner muslimischer Staaten (93).

In Kapitel 5 wünscht sich K. anstelle einseitiger Kontrastierungen von säkularem und religiösem Recht in Anknüpfung an C. Taylor und J. Habermas eine lösungsorientiertere Verständigung, die gegenseitige Vorurteile abbaut. Dabei folgt er dem sudanesisch-US-amerikanischen Rechtswissenschaftler Abdullahi an-Naʿim (geb. 1946), der Menschenwürde und Glaubensfreiheit als »die wahren Werte der Scharia« (63) derzeit am besten im Westen realisiert sieht. Entscheidend sei dabei die Säkularität des Staates, nicht die der Gesellschaft, in der sich auch religiöse Menschen frei entfalten können (104 f.).

Bezüglich der Menschenrechte werden in Kapitel 7 vor allem drei Zugänge erkennbar. Der Vereinnahmung der Menschenrechte als urislamische Erfindung stehen religionskritische Forderungen nach vollständiger Übernahme westlicher Konzepte gegenüber, die u. a. mit der mangelnden Gleichberechtigung von Muslimen und Nicht-Muslimen sowie Männern und Frauen und der fehlenden Freiheit zum Religionswechsel begründet werden. Khalfaoui selbst scheint einen »harmonisierende[n] Ansatz« (155) zu favorisieren, der klassisch-islamische Positionen – darunter frauendiskriminierende Bestimmungen (Kap. 10) oder die u. a. mit Muhammads Vorbild legitimierte Zwangs- und Frühverheiratung junger Mädchen (Kap. 11) – kritisch reflektiert und im Zuge einer Neuinterpretation durch moderne Ideen zu bereichern versucht. Er gibt allerdings selbst zu bedenken, dass ein solcher Ansatz den meisten Muslimen außerhalb der intellektuellen Zirkel bisher kaum bekannt ist (162).

Spannend sind auch Khalfaouis Reflexionen zur Arbeitsethik (Kap. 12). Demnach wird im Koran und vor allem in der sufischen Tradition Reichtum als Gefahr und Armut als Segen gesehen und reines Gottvertrauen gefordert. Spätestens im 10. Jh. werde Arbeit im Rechtsdiskurs aber ganz überwiegend als menschliche Pflicht und Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand verstanden. Heute stünden muslimische Staaten vor umgekehrten Herausforderungen, wenn auf Demos nicht nur Freiheit und Gerechtigkeit, sondern (bei hoher Erwerbslosigkeit) auch ein Recht auf Arbeit eingefordert würde. Kapitel 13 beschreibt u.a. Herausforderungen beim Aufbau einer islamischen Wohlfahrt wie den Umstand, dass die Pflege kranker Eltern meist als Privatsache der betroffenen Familien verstanden wird (279).

Im letzten, 14. Kapitel betont K. das islamische Potenzial für eine »facetten- und inhaltsreiche Soziallehre« (287), die den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt fördern könne. Dafür müssten sich Muslime jedoch von einer immer noch weit verbreiteten und theologisch begründeten Mentalität der Überlegenheit (Sure 3,110) abkehren, die zur Abwertung anderer Gruppen neige und dadurch Integration und religionsübergreifende Kooperation erschwere. Gleichwohl könnten Muslime weiterhin stolz auf ihre Religion sein und müssten keineswegs auf ihre eigene Identität verzichten (298). Derzeit erscheint es jedoch fraglich, ob sich diese Differenzierung K.s im Mainstream islamischer Moscheeverbände durchsetzen kann und ob auch die Mehrheitsgesellschaft bereit ist, konsequenter zwischen religiösen Wahrheits- und politischen Machtansprüchen zu unterscheiden.

Angesichts der Fülle der behandelten Fragen vermisst man im Anhang ein Sach- und Personenregister. Insgesamt gibt das Buch aber einen sehr hilfreichen Einblick in die komplexe Welt klassischer und zeitgenössischer islamischer Rechtsdiskurse und liefert an zahlreichen Stellen wertvolle Anstöße zu einer sachlicheren innerislamischen wie auch interreligiösen und gesamtgesellschaftlichen Debatte, die sich ohne Polemik und Beschwichtigung mit bestehenden Hindernissen und zukünftigen Voraussetzungen eines friedlichen und konstruktiven Zusammenlebens auseinandersetzt.