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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

770-772

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Konrad, Kristin

Titel/Untertitel:

Gemeinschaftswerdung Israels im Buch Exodus. Ein Identifikationsangebot im Religionsunterricht. = Religionspädagogik innovativ, 34.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 342 S. m. 4 Abb. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170381643.

Rezensent:

Ann-Kathrin Knittel

Beim vorliegenden Band von Kristin Konrad handelt es sich um eine katholisch-theologische Dissertationsschrift, welche an der TU Dortmund federführend von E. Ballhorn von exegetischer und C. Gärtner von religionspädagogischer Seite betreut wurde. Im Anschluss an Ballhorn bemüht K. vor allem narrativ-exegetische Zugänge zur Schrift und ist an einem Brückenschlag in die, hier schulische, Praxis interessiert. Zwei Leitfragen werden zu Beginn formuliert und markieren zugleich das religionspädagogische Achtergewicht der Arbeit: Zum einen fragt K., inwiefern es »möglich [ist], dass schulische Lerngruppen im gemeinsamen Verstehen einen Zugang zur (narrativ vermittelten) Gottesdimension erhalten können, indem sie sich als Lese- und Verstehensgemeinschaften einer biblischen Schrift erproben?« (16) Zum anderen soll erörtert werden, ob gruppenbezogene Auslegungsprozesse biblischer Texte im Religionsunterricht »Anknüpfungsstellen für ein ›Wir‹ bieten und somit Auswirkungen auf die Gemeinschaftswerdung haben können« (17). Damit schließt K. an offene Fragen der religionspädagogischen Empirie an und bringt sie in Verbindung mit bibeldidaktischen Erwägungen. Der wechselseitige Bezug des exegetischen und religionspädagogischen Teils soll laut K. nicht problem- oder lösungsorientiert ausgerichtet sein, sondern eine explorative und zum Teil spielerische Bezugnahme exegetischer Ergebnisse und theoretischer Konzepte darstellen (16). In exegetischer Hinsicht findet vor allem wiederkehrend eine Auseinandersetzung mit der von J. Assmann vertretenen These, Identitätsbildung vollziehe sich in der Exoduserzählung vor allem in Abgrenzung zu Ägypten, statt. Soziologisch werden M. Webers Idee der Vergemeinschaftung und H. Pleßner Grenzen der Gemeinschaft rezipiert (51 ff.), woraus K. ihre Fokussierung auf die Gewichtung gemeinsamer Handlungsziele innerhalb einer Gruppe, der Orientierung der einzelnen Personen aneinander sowie nach Differenz innerhalb von Gemeinschaftskonstellationen und den Umgang damit ableitet.

Die Arbeit gliedert sich entsprechend in einen exegetischen und einen fachdidaktischen Teil. Innerhalb des exegetischen Abschnitts arbeitet K. mit vier narrativen Texten (Ex 1,1–7; 1,15–22; 2,1–10; 19,1–8), deren Auswahl vor allem didaktischen Gesichtspunkten folgt. Die Einzeltexte werden dabei zunächst je in einer eigenen Textübersetzung geboten, abgegrenzt und in ihren jeweiligen Kontext eingeordnet sowie gegliedert und in ihrer Handlungsstruktur erarbeitet. Es folgen narrativ exegetische Vertiefungen in Form von semantischer Figurenanalyse und der Untersuchung der entsprechenden Kommunikations- und Perspektivenstrukturen (Erzählstimme und Fokalisierung, Leerstellen). Der Ertrag der Unterkapitel wird jeweils bündig zusammengefasst. Die Vorauswahl der Texte ist vor allem von der religionspädagogischen Fragerichtung, wie Gemeinschaft in heterogenen Gruppenkontexten entstehen kann, geleitet und daher darum bemüht, die Heterogenität der Vergemeinschafteten (Männer und Frauen, Israel und Ägypten) zu gewährleisten. Dabei bleibt jedoch offen, wie Gemeinschaft definiert wird und in welchem Verhältnis sie bspw. zum Konzept der Identität steht. Eine wesentliche These von K. ist jedoch, dass sich Identitätsbildung, anders als von Assmann behauptet, nicht nur durch Abgrenzung vollziehe, sondern vor allem im Gegenüber zu JHWH als dem Gott Israels, was bspw. besonders im Fall der Hebammen (Ex 1,15–22) deutlich werde. Zugleich wird auf das mehrdimensionale Ägyptenbild innerhalb des Alten Testaments, das in Ex 1 besonders durch den Verweis auf die Josefserzählung eingespielt wird, verwiesen. Diese Grundstruktur der Identitätsstiftung bildet die wichtigste Brücke zum fachdidaktischen Teil. Andere exegetische Untersuchungen, die sich auch diachron und methodologisch differenziert mit dem Phänomen der Identitätskonstruktion auseinandersetzen (z. B. Ruth Ebach, BZAW 471, Berlin 2014), wurden jedoch nicht in der Breite rezipiert. Zwar werden vereinzelt historische »Verdichtungen« eingespielt, und die wesentliche Gestaltung der literarischen Exoduserzählung in die exilische und frühnachexil. Zeit verwiesen (78), diese wären jedoch ausbaufähig, da eine diachrone Informiertheit neben aller narrativ-synchronen Textanalyse an manchen Stellen zur Konkretisierung von Diskurs- und Handlungsdynamiken hätte beitragen können, was auch für den Übertrag in die Praxis sachdienlich gewesen wäre. Als Ertrag ihrer exegetischen Streifzüge hält K. fest, dass Ex unterschiedliche und ergänzende Perspektiven auf Gemeinschaft bietet. Gemeinschaft werde sowohl permeabel als auch geschlossen konstruiert (165) und grundsätzlich stelle kein Gruppenkonflikt das grundlegende Erzählinteresse der Exoduserzählung dar, sondern die narrative Ausgestaltung des Konflikts Gott gegen Pharao. Vielmehr konstituiere sich Gemeinschaft jeweils durch ein gemeinsames Ziel mit mehr oder weniger stark ausgeprägter Gottesperspektive. Der zunehmend dominanten Israelperspektive der Erzählung begegnet K. in Anlehnung an E. Schüssler-Fiorenza mit einer »Hermeneutik der Erinnerung«, in der exklusive Texte wie Ex 19 an den Anfang der Erzählung in Ex 1–2 zurückverwiesen werden. Ferner betont K. die religionsdidaktische Eignung der Exoduserzählung, da sie die Identifikation mit Einzelfiguren ermöglicht und eine appellative, identitätsreflexive Struktur aufweist.

Zu Beginn des religionspädagogischen Teils nimmt K. hier eine Sichtung der Rahmenbedingungen des Religionsunterrichtes (RU) vor, indem sie die konfessionelle Gebundenheit, aber auch das Verhältnis von Jugendlichen zur Bibel anhand der empirischen Studien von Englert et al., Calmbach et al., Spiering-Schomborg und der JIM-Studie skizziert. Die konfessionelle Verfasstheit des RU, die in Spannung mit den heterogenen Lerngruppen steht, bildet die Folie für K.s Frage nach der Gemeinschaftswerdung. Mit Blick auf das Spannungsfeld von Konfessionalität und Heterogenität ruft K. die alteritätstheoretischen Ansätze von B. Grümme auf. Der Distanz von Jugendlichen zu biblischen Texten, trotz einer gleichzeitigen Affinität zu fiktionalen Texten, begegnet K., indem sie das niederländische Konzept De Bijbel op school aufruft. Ferner referiert sie verschiedene bibeldidaktische Ansätze (Meurer/Ruster, Fricke, Müller, Porzelt, Alkier, Dressler), reflektiert das Alteritätsmoment biblischer Texte und kommt zu dem Schluss, dass gerade dieses auch nicht konfessionell gebundenen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu den Texten ermöglicht. Dass K. nun gerade das gemeinsame Bibellesen als Stellschraube für das Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls im RU anbringt, verwundert zunächst angesichts des schweren Standes, den das Bibellesen selbst hat. Die wiederholte Feststellung, dass biblische Texte auch literarische Texte und damit pluralismusfähig sind, nimmt dieser Ausgangslage erst einmal nur wenig von ihrer Problematik. So wäre eine Reflexion auf die Unterschiede der literarischen Gestaltung zwischen biblischen und sonstigen literarischen Texten aus bibeldidaktischer Sicht sicher zuträglich gewesen. Dennoch gelingt es K. plausibel zu umreißen, dass die Lektüre von Bibeltexten im RU eine gute Plattform bietet, der Heterogenität schulischer Lerngruppen zu begegnen. Gemeinsame Bibellektüre kann Vergemeinschaftungsprozesse im Religionsunterricht anregen, wenn sie dissensbewahrend und konsensorientiert zugleich ist. Die Entwicklung dieser These vollzieht sich überwiegend im religionspädagogischen Diskurs. Entsprechend der Gesamtanlage der Arbeit wäre hier der Ort gewesen, um wechselseitiges Erschließen von Dynamiken fruchtbar zu machen. Auch wenn K. zu Recht darauf hinweist, dass die Vergemeinschaftungsprozesse in Ex nicht als Modell für den RU fungieren können, wäre eine kritische Auslotung der Handlungsdynamiken innerhalb der Texte sowie der literaturgeschichtlichen Identitätsbildungsprozesse für die wechselseitig konzipierte Fragestellung des Buches gewinnbringend gewesen.

Die zentrale Grundbeobachtung von K., dass Lese- und Verstehensprozesse in Gruppen und ihre Auswirkungen auf Grup- penidentität ein unterbelichtetes Forschungsfeld sind, ist sicherlich wegweisend, da gerade hier wesentliche Dynamiken für reli-giöse Bildung in verschiedensten Kontexten zu erheben wären.