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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

749-751

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Brüser, Meinolf

Titel/Untertitel:

Wenn Bach trauert. Die Motetten Johann Sebastian Bachs neu verstanden.

Verlag:

Kassel: Bärenreiter Verlag 2023. 267 S. Geb. EUR 49,99. ISBN 9783761826126.

Rezensent:

Konrad Klek

Anders als bei den Kantaten von J. S. Bach, wo der Bestimmungssonntag im Kirchenjahr in der Regel klar vermerkt ist und damit der inhaltliche Referenzrahmen des Sonntagsevangeliums feststeht, gibt es bei Bachs Motetten große Fragezeichen in Sachen ursprünglicher Sitz im Leben. Zudem ist bei Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn und Lobet den Herrn, alle Heiden sogar Bachs Autorschaft strittig. Ein Autograph ist nur bei zwei der maximal sieben Werktitel erhalten, die Überlieferung rekurriert sonst auf Abschriften, die teilweise erst nach Bachs Tod angefertigt wurden. Das Sujet Bach-Motetten lässt also Freiraum für die Forschung und groß bleibt das Bedürfnis nach Leitlinien für deren inhaltliche Deutung, etwa für Predigten bei Gottesdiensten mit diesen faszinierenden Bach-Werken.

Der Titel der hier vorgelegten Arbeit – es ist die musikwissenschaftliche Dissertation eines Juristen im Ruhestand – gibt mit »Wenn Bach trauert« vor, einen Schlüssel zur Einordnung der Werke gefunden zu haben. Dass Motetten in Zeiten, wo allsonntäglich »die Music« aus vokal-instrumental konzipierten Kantaten besteht, im Verzicht auf eigenständige, »konzertierende« Instrumentalpartien in der Regel Kasualmusiken für Traueranlässe sind, ist nichts Neues. Auch findet sich auf der autographen Partitur Der Geist hilft unserer Schwachheit auf Bachs Eintragung »Bey Beerdigung« des Thomasschulrektors Ernesti im Oktober 1729. Schon Anfang des 20. Jh.s hat sich der Leipziger Bachforscher B. F. Richter auf die Suche gemacht nach Bibeltextvermerken von Gedächtnispredigten, die in Korrelation zu den Texten der Bach-Motetten stehen und namentlich zu Jesu, meine Freude, dem in der Verschränkung von Versen aus Röm 8 und Liedstrophen theologisch so ergiebigen Werk, im Juli 1723 (also kurz nach Bachs Amtsantritt) eine Gedächtnispredigt zu Röm 8,11 für eine Leipziger Bürgerin ausfindig gemacht. Von diesem Kasus aus hat die Bach-Forschung jahrzehntelang diese Hypothese »Motette als bestelltes Auftragswerk für eine Gedächtnisfeier« traktiert und auch mit den anderen Werken verknüpft, obwohl es dafür keine weiteren Anhaltspunkte gab. Im Jahr 1982 hat dann M. Petzoldt den von ihm entdeckten Ablauf der besagten Gedächtnisfeier 1723 vorgestellt, wo von Bachs Motettendarbietung nichts zu sehen ist.

Meinolf Brüser, als Jurist mit der Durchführung von Indizienbeweisen wohl vertraut, zerlegt als Erstes sowohl die seinerzeitige Beweisführung von Richter als auch die hartnäckige Hypothesenfixierung der Bachforschung. Zudem kommt er mit Bezug auf Bachs Anstellungsrevers zur Feststellung, dass es ihm in seiner Position gar nicht gestattet war, spezielle bürgerliche Aufträge anzunehmen, da die Musik zu Bestattungen zur Dienstpflicht der Thomaner und ihres Kantors gehörte und nach klaren Regeln vollzogen wurde. B.s Gegenthese präzisiert den Kasusbezug Bestattung bei den Motetten folgendermaßen: Anlass für Bachs erhaltene Motetten sind jeweils Todesfälle im persönlichen oder dienstlichen Umfeld (Thomasschule). Mit seiner ebenfalls indiziengesteuerten »Beweisführung« kommt er zu folgenden Ergebnissen (mit unterschiedlichem Grad der Wahrscheinlichkeit):

Ich lasse dich nicht – mit »großer Wahrscheinlichkeit« geschrieben anlässlich des Todes der 1713 in Weimar von seiner Frau Maria Barbara geborenen und sogleich verstorbenen Zwillinge;

Fürchte dich nicht – mit großer Wahrscheinlichkeit komponiert zum überraschenden Tod seiner ersten Frau Maria Barbara 1720;

Singet dem Herrn ein neues Lied – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Musik zum Tod des Thomaners H. L. Zornitz im Mai 1726;

Jesu, meine Freude – mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls Trauermotette für einen Thomaner, wahrscheinlich für den ersten Todesfall in Bachs Amtszeit 1724;

Komm, Jesu, komm – mit großer Wahrscheinlichkeit geschrieben zum Tod des Thomasschul-Konrektors C. F. Pezold im Mai 1731.

Gleichermaßen als Mitnahmeeffekt der Beweisführung liefert B. noch Wahrscheinlichkeitsfeststellungen für Bachs Cembalomusik Chromatische Fantasie und Fuge (Tod von Maria Barbara) und für die Hochzeitskantate Weichet nur, betrübte Schatten (Bachs Hochzeit mit Anna Magdalena).

Solche Verortungen im persönlichen Bereich werden heute sicher dankbar aufgenommen von Exegeten und Predigern, welche Bachs hohe Kunst durch lebensnahe Bezüge fasslich machen wollen. Namentlich Fürchte dich nicht – zum Tod der Ehefrau – was für ein persönliches Glaubenszeugnis! Oder das so unerschütterliche Ich lasse dich nicht zum frühen gleich doppelten Kindstod im eigenen Hause. Aber des Herrn Juristen Beweisführung mit dem durchaus erfrischend unkonventionellen Zugang hält nur bedingt, was sie verspricht.

Wichtige Indizien sind bei B. einerseits motivische B-A-C-H-Anklänge in den Werken, die er gut herausarbeitet, etwa bei Fürchte dich nicht. Die damit verbundene Hypothese lautet: Je deutlicher BACH zu vernehmen ist, umso persönlich näher liegt für Bach der Todesfall. Andererseits sieht B. in gematrischen Befunden (Taktzahlen, Zahl von Themeneinsätzen) zentrale Indizien, konkret allerdings nur in der Zahl 14 als Äquivalent von BACH nach dem Zahlenalphabet und ihrer Umkehrung 41. Hypothese ist: Die 14/41 kommt dann vor, wenn Bach persönlich besonders betroffen ist. Weiter klopft er die vertonten Texte auf deren implizite Beziehungsebene ab und identifiziert etwa bei Vater/Kind-Metaphorik eine Anspielung auf das Betreuungsverhältnis zwischen Kantor Bach als Vaterersatz und (verstorbenem) Thomasschüler.

In der Stringenz, wie von B. suggeriert, taugen die als solche zutreffend erhobenen Indizien aber nicht zum Beweis. Sowohl B-A-C-H-Anklänge als auch die Zahlen 14 und 41 finden sich in Bachs Schaffen (Kantaten wie Klaviermusik) vielfach, ohne dass eine solch spezielle persönliche Betroffenheit dingfest zu machen wäre. Bei der Motette für den Thomasschulrektor Ernesti findet B. diese Indizien nicht, was in seinen Augen für den eher dienstlich zu wertenden Anlass spricht: Der erste Motettenteil im 3/8-Takt hat aber 123=3x41 Takte und die B-A-C-H-Modifikation B/A – H/C zeigt sich im folgenden Abschnitt zweimal signifikant zum »unaussprechlichen Seufzen« (T. 132 f./T. 138). Besonders ausgiebig ist die Beweisführung bei Singet dem Herrn ein neues Lied, was als Trauerfallmotette in der Tat wenig plausibel erscheint. Hier wird der autographen Liedwendung »Wie sich ein Vater erbarmet über seine jungen Kinderlein«, statt »ein Mann« (EG 289,3) und »Kindlein klein« von B. signifikante Bedeutung zugemessen. Zumindest der »Vater« steht aber so im seit 1725 genutzten Dreßdnischen Gesangbuch, und ob »junge Kinderlein« statt »Kindlein klein« belastbar ist als Bachs Reflex auf den bereits 21-jährig verstorbenen Thomaner? Zudem sieht B. hier Text-Analogien zur Kindstot-Motette von 1713, und das ist doch wirklich ein anderer Kasus. Der Fragestellung nach den konkreten Aufführungsmodalitäten einer solchen Kindstot-Motette oder auch beim Tod der Gattin in Köthen weicht B. aus.

B. hat zwar die gesamte musikwissenschaftliche Literatur zu den Motetten durchforstet und gut analysiert, aber nicht die jüngere zur Gematrie und erst recht nicht zur Hymnologie und Theologie der Bach-Zeit. Um mit dem Vater/Kind-Topos als Signet persönlicher Betroffenheit argumentieren zu können, müsste der Umgang damit in Bibel-Auslegungen und namentlich Leichenpredigten der Zeit erhoben werden. Die Quellenbasis dafür wäre breit.