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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

737-739

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Spehr, Christopher [Hg.]

Titel/Untertitel:

Landeskirche ohne Landesherrn. Neuanfänge und Kontinuitäten der evangelischen Kirchen in der Zeit der Weimarer Republik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 384 S. = Herbergen der Christenheit. Sonderbd. 27. Kart. EUR 34,00. ISBN 9783374068692.

Rezensent:

Karl-Heinz Fix

Der vorliegende Band mit einem sprachlich eigenartigen Titel bündelt die Referate des Symposions »Landeskirche ohne Landesherrn: Neuanfänge und Kontinuitäten der evangelischen Kirchen in der Zeit der Weimarer Republik«, das im August 2019 aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Weimarer Reichsverfassung in Weimar stattfand.

Bei der Tagung ging es um die Frage, wie man in den Landeskirchen die neu gewonnene Freiheit nach dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments in einem neuen politischen Umfeld gestaltete bzw. darum, ob Neuanfänge oder Kontinuitäten überwogen? Obwohl die Autoren im Vorfeld Leitfragen erhalten hatten, verfolgen sie je eigene Ansätze mit unterschiedlichen Zeitrahmen. So wird der intendierte Vergleich der nach dem November 1918 erfolgten Neuregelungen des Staat-Kirche-Verhältnisses auf Reichs- und Länderebene sowie der jeweiligen landeskirchlichen Verfassungsentwicklungen leider fast unmöglich.

Auf einen »einleitenden Prospekt« Christopher Spehrs (11–21) und den Abdruck zweier Abendvorträge Klaus Dickes über die Herausforderungen für Gesellschaft und Kirche nach dem Ersten Weltkrieg (25–38) mit der Diagnose einer »Art kollektiver Realitätsverweigerung« (38) und von Axel Noack über evangelische Einigungsbestrebungen seit 1806 (39–76) folgt ein Vergleich der Landeskirchen von Preußen, Württemberg und dem von Württemberg umgebenen preußischen Hohenzollern durch Jürgen Kampmann (79–94).

Albrecht Geck (97–115) wertete für den Umbruchszeitraum 1918/19 in Westfalen die Protokolle von Kirchenkreissynoden aus. Neben der Überzeugung, dass die Integrität der Landeskirche erhalten bleiben und man die sich aus der Trennung vom Staat ergebenden Möglichkeiten nutzen müsse, betont er die Heterogenität der von regionalen Besonderheiten bestimmten theologischen und politischen Überzeugungen sowie die Furcht um den Bestand des evangelischen Milieus bzw. der konfessionellen Identität.

Andreas Mühling stellt konzise die rheinische Provinzialkirche (117–128) dar, die auch wegen ihres Minderheitenstatus loyal zur Monarchie stand. Aus den Voten der Kirchenleitung zur Revolution und den Protokollen der Provinzialsynoden folgert er eine konservative, aber kirchenpolitisch flexible Haltung, so dass aus der Staatskirche dank der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835 eine Volkskirche mit der Synode als dominierendem Gremium werden konnte.

Der Rechtshistoriker Hans Seehase beleuchtet vor allem kirchenrechtliche Spezialfragen der Kirchenprovinz Sachsen (129–149) und streift mit zum Teil irritierenden Formulierungen (S. 143 ist von der »innere[n] Zerrissenheit der neuen republikanischen Verfassung« die Rede) zentrale Aspekte der Geschichte der Kirchenprovinz in der Weimarer Republik dagegen nur kurz.

Zwei Kirchengebiete – die Kirchenprovinz Schlesien und die Unierte Kirche im polnischen Oberschlesien – nimmt Dietmar Neß, gestützt auf die Auswertung des »Evangelische(n) Kirchenblatt(s) für Schlesien«, in den Blick (151–179). Er skizziert die von kirchenpolitischer Gruppen- bzw. Parteibildung bestimmten Gemeinde- und Provinzialsynodalwahlen, einige kirchliche Arbeitsfelder und vor allem die Situation der Unierten evangelischen Kirche in Polnisch-Oberschlesien seit 1923. Abschließend beschreibt Neß warnende Stimmen angesichts des Erstarkens der NSDAP und die Kirchenwahlen im Sommer 1933.

Als erste Repräsentantin einer »Kleineren Landeskirche« stellt Rainer Hering (183–198) sachkundig Hamburg vor. Bei allen wertvollen Informationen, die diese thematisch breit gefächerte Kirchengeschichte Hamburgs in der Weimarer Republik enthält, kommt das Thema des Bandes nur bei der Debatte um die Einführung des Bischofsamtes zum Tragen.

Gerrit Noltensmeier konzentriert sich in seinem Beitrag über Lippe (199–211) auf Generalsuperintendent August Weßel, der von 1901 bis 1930 die Landeskirche führte und den verfassungsmäßigen Übergang managte, aber mit seiner Dominanz auch retardierend wirken konnte.

Sehr detailliert zeichnet Helge Klassohn (213–239) die Debatten über das Verhältnis von Kirche und Staat sowie um eine Kirchenverfassung in Anhalt nach. Daran anschließend nimmt er als Zeichen für die Distanz kirchlicher Kreise gegenüber der Republik den Gottesdienst zum Verfassungstag 1923 in den Blick. Statt aber konkrete Beispiele für das kirchliche Versagen in und an der Demokratie zu nennen, schreibt er vom »Menetekel« der »kommenden ›bösen‹ Jahre« (239).

In der Gruppe »Landeskirchen in der Mitte Deutschlands« informiert zunächst Werner Koch ausgezeichnet (243–260) über die bunte politische und kirchliche Landschaft Thüringens, der Heimat reichskirchlicher Pläne seit 1848. Nach 1918 wurde die Jenaer Theologische Fakultät zum Kristallisationspunkt der keineswegs linear verlaufenden Entstehung der Landeskirche, für die politische wie kirchliche Widerstände und zentrifugale Kräfte überwunden werden mussten. Angesichts der Vielzahl der zu vereinenden Kirchen und Konfessionssensibilitäten waren auf einem prinzipiell kirchlich-liberalen Fundament zahlreiche theologische Bedenken so zu klären, dass kein Gefühl der Überwältigung entstehen konnte.

»Hier gingen die Uhren anders«, so könnte man Wolfgang Lücks Text über Hessen-Darmstadt (261–277) beschreiben. Der Übergang von der Monarchie zur Republik scheint in der Landeskirche pragmatisch-konstruktiv und ohne Konflikte vollzogen worden zu sein, indem »in gewisser Weise die Kontinuität zur Monarchie erhalten« blieb (277). Mehr hätte man gerne darüber erfahren, wie in dieses harmonische Bild die Idee zur Gründung einer judenchristlichen Kirche und die jede Kontinuität sprengenden Pläne zur Bildung einer großhessischen Kirche hineinpassen.

In der Abteilung »Landeskirchen im Süden Deutschlands« berichtet zunächst Johannes Ehmann über Baden »in verfassungspoliti-scher Perspektive« (281–292) und blickt dabei bis in die 1770er Jahre zurück. Dank früher Tendenzen für eine Trennung von Kirche und Staat und Parallelen von staatlicher und kirchlicher Verfassungsentwicklung konnte nach 1918 die kirchliche Neuordnung innerhalb der Bahnen erfolgen, die noch das alte System vorgegeben hatte. Das Ende der schon früh als zu parlamentarisch kritisierten Kirchenver- fassung im Sommer 1933 handelt Ehmann nur kurz ab. Er verschweigt vor allem, dass der Angriff der »Kirchlich-Positiven Vereinigung« auf die Kirchenverfassung im Juli 1932 nicht deren Macht stärkte, sondern eine Koalition gegen den badischen DC-Ableger verhinderte.

Wolfgang Sommer versucht auf methodisch problematische Weise, die bayerische Landeskirche unter Kirchenpräsident Veit vom Vorwurf der Republikfeindschaft zu befreien (293–311). Sommers Aussage, dass in Bayern »ein kirchenfeindliches und kulturkämpferisches Agieren« des kurzzeitigen preußischen Kultusministers Adolf Hoffmann gedroht habe (299), basiert schlichtweg auf der falschen Wiedergabe der verwendeten Literatur.

Drei Beiträge gelten deutschsprachigen evangelischen Kirchen in Osteuropa. Knapp und präzise untersucht Olgierd Kiec die evangelischen Kirchen in Polen (315–330) vor dem Hintergrund der Identifikation von konfessioneller und nationaler Zugehörigkeit und der Bindung mehrerer Minderheitskirchen an Kirchenbehörden im Ausland. Während die nationalpolnisch ausgerichtete Evangelisch-Augsburgische Kirche expandieren konnte und Bischof Bursche »eine überkonfessionelle, nationale Gemeinschaft« auf Kosten der deutschen Minderheit anstrebte (318), verharrten die anderen Kirchen als regionale Größen. Am Beispiel der Evangelisch Unierten Kirche in Polen beschreibt Kiec Herausforderungen und Konflikte, die die bis 1920 zur Altpreußischen Union gehörenden Kirchen der Provinzen Posen und Westpreußen meistern mussten.

In den neu entstandenen Staaten Estland und Lettland führte die Entwicklung von deutschen Landeskirchen zu nationalen Volkskirchen (331–334). Sebastian Rimestad arbeitet den durch die kirchliche Entwicklung verursachten Statusverlust der Deutschbalten heraus, der jedoch für die Balten den Höhepunkt einer Entwicklung darstellte, die jäh zerstört wurde.

Mit breitem Themenhorizont und hoher Informationsdichte, die aber beim Leser große Sachkunde voraussetzt, beschreibt Ulrich A. Wien die Geschichte der Evangelischen in Siebenbürgen, die nach Kriegsende dem Königreich Rumänien zugeschlagen wurden, in ihren nationalitätenpolitischen Implikationen. Sie fanden sich in einer konfessionell, politisch und staatskirchenrechtlich völlig veränderten Situation in einem von der Orthodoxie geprägten Land wieder, das den Weg in die Moderne kaum zu meistern vermochte.

Ein Autorenverzeichnis, ein Personenregister, ein Ortsverzeichnis und ein Abkürzungsverzeichnis beschließen einen Band, mit dem ein Forschungsdesiderat eher nochmals angezeigt als behoben wird.