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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

705-707

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Smit, Peter-Ben

Titel/Untertitel:

Felix Culpa. Ritual Failure and Theological Innovation in Early Christianity.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2022. VIII, 190 S. = Novum Testamentum. Supplements, 185. Geb. EUR 99,00. ISBN 9789004460959.

Rezensent:

Christian Strecker

Die in den Kulturwissenschaften seit Langem etablierte Ritualforschung setzt sich zusehends auch im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft durch. Das Buch von Peter-Ben Smit fügt sich dieser Entwicklung ein. Programmatisch lautet gleich der erste Satz: »Early Christian existence was a ritual existence.« Der ausgesprochen originelle Forschungsbeitrag des Buches liegt nun aber darin, das produktive Potenzial des Scheiterns von Ritualen in den Blick zu nehmen, um die Welt des frühen Christentums und die Bedeutung ntl. Texte konsequent von daher neu zu erschließen. Dazu rekurriert S. auf die Typologie möglicher Formen rituellen Misslingens, die der Ritualforscher Ronald Grimes erstellte. Anhand dieser Typologie beleuchtet S. in sechs Fallstudien einschlägige Texte von Philon, Markus und vor allem von Paulus, die von Mahlritualen, der Beschneidung, der Taufe und dem Ritual der Kreuzigung handeln. Bis auf eine Ausnahme sind die Fallstudien bereits andernorts erschienen. Für den Neudruck hat sie S. gründlich überarbeitet und die jeweiligen theoretischen Reflexionen im ersten Buchkapitel neu gebündelt.

In dem besagten ersten Kapitel beleuchtet S. nach einigen Bemerkungen zur Rolle der ritual studies in der Exegese das Verhältnis von Text und Ritual. Er betont, ntl. Texte, die von Ritualen handeln, seien nicht nur Aussagen »über« Rituale. Als Ritualdeutungen und -bewertungen partizipierten sie an der Aushandlung der rituellen Praxis und damit an der im rituellen Leben ankernden Identität der Gemeinden, würde doch Identität zumal im körperlichen Erleben von Ritualen performativ hergestellt. Rituellem Misslingen komme vor diesem Hintergrund eine Schlüsselrolle zu. S. begründet dies wie folgt: Die Diagnose rituellen Scheiterns sei zunächst eine Frage der Perspektive. Je nach den herangezogenen Bewertungskriterien könne bisweilen dasselbe Ritual als Erfolg oder Misserfolg betrachtet werden. Ein Dissens erzwinge Verhandlungen. In diesen würde(n) die Bedeutung(en) des Rituals neu ins Bewusstsein treten. Vor allem aber würden Neuausrichtungen bezüglich der Geltung und/oder Praxis des betroffenen Rituals erwogen und erwirkt, nicht selten unter dem Motto einer postulierten Rückkehr zu alten Regeln. Schließlich würden im Streit über Rituale auch Machtstrukturen neu konstituiert, je nachdem, welche Gruppen oder Individuen sich durchsetzen. Die in der vorliegenden Studie behandelten jüdischen und neutestamentlichen Texte sieht S. in solche Aushandlungen eingebunden.

Dass Ritualkritik mittels Benennung ritueller Fehlschläge bereits in der Antike gängig war und sein eigener Forschungsansatz insofern nicht anachronistisch ist, sucht S. im zweiten Kapitel mittels einer Analyse von Philons Vergleich griechischer Mähler mit dem Therapeutenmahl (Cont. 40–68) zu belegen. Das dritte Kapitel ist Paulus’ Beschneidungskritik gewidmet: Diese ziele nicht auf die Abschaffung des Rituals, vielmehr bemängle der Apostel die rituelle Ineffizienz der Beschneidungspraxis. Im vierten Kapitel bespricht S. Paulus’ Auseinandersetzung mit verfehlten Mahlpraktiken in 1Kor 8,1–13 und 11,17–34. Diese stehe im Dienst der Verteidigung der Integrität und rituellen Effizienz des Herrenmahls. Im fünften Kapitel deutet S. die Ausführungen in Röm 6,1–14 als Kritik am Taufverständnis in Rom. Im sechsten Kapitel legt S. dar, dass die Kreuzigung Christi in Phil 2,5–11 als gescheitertes politisches Erniedrigungsritual erscheint, insofern sie in ein soteriologisches Erhöhungsritual umgedeutet wird. Im siebten Kapitel erörtert S. Mk 6. Ritual und masculinity studies kombinierend, arbeitet er den Kontrast zwischen dem Mahl des Herodes und Jesu Speisung der 5000 heraus. Während das Herodesmahl durch die Aktionen der Frauen und die Hinrichtung des Täufers als missratenes Mahl eines unsouveränen Herrschers zu stehen komme, erweise sich Jesus im rettenden Sättigungsmahl als souveräner Euerget. Im letzten Kapitel fasst S. wichtige Ergebnisse zusammen.

Das Buch liefert einen wertvollen Beitrag zur Integration der ritual studies in die historisch-kritische Exegese. Die Interpretation neutestamentlicher Texte vor dem Hintergrund frühchristlicher Auseinandersetzungen über das Miss- oder Gelingen ritueller Praktiken unter Rekurs auf die Typologie rituellen Scheiterns von Ronald Grimes ist innovativ und eröffnet neue Perspektiven. Dies gilt auch dann, wenn man S. nicht in allen Einzelthesen folgen mag. Dass Paulus die Vokabel »Beschneidung« in Phil 3,3 und Röm 2,29 nicht metaphorisch bzw. rhetorisch gebraucht, sondern auf die rituell verstandene christusgläubige Lebensform bezogen wissen will, wird nicht allen einleuchten, ebenso wenig, dass Paulus in Röm 6,1–14 die rituelle Kompetenz der Führung der römischen Gemeinde angreift und den römischen Christusgläubigen konkret vorwirft, sie würden den Effekt der Taufe in und mit ihrem Lebenswandel annullieren. Ungeachtet dieser und anderer möglicher Anfragen bietet das Buch aber viele beachtenswerte Anregungen zur weiteren Erforschung der rituellen Welt des frühen Christentums. Dafür ist dem Autor zu danken.