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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

637-639

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Giebel, Astrid, Hörsch, Daniel, Hofmeister, Georg, u. Ulrich Lilie [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Einsam. Gesellschaftliche, kirchliche und diakonische Perspektiven. Hgg. im Auftrag der Diakonie Deutschland.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 332 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783374071593.

Rezensent:

Michael Pfaff

Es gibt wohl kein Medium der öffentlichen Berichterstattung, welches sich in den letzten Monaten nicht mit dem Thema Einsamkeit im größeren Rahmen auseinandersetzte. Der Fokus lag zumeist in einer alarmistischen Haltung, die die Einsamkeit unter Menschen als eine neue Plage der Gesellschaften kennzeichnet und als enorme Herausforderung für die Politik und die sozialen Institutionen versteht. Im Hintergrund stehen dabei die Pandemiemaßnahmen, die viele Menschen in ihrem Alltag belastet haben. Einsamkeit wurde plötzlich als ein gefährlicher Risikofaktor beschrieben, wie z.B. das Rauchen. Die Rufe nach Abhilfe wurden laut, obwohl keine Zahlen bis heute wirklich belegen, dass die Menge einsamer Menschen zunimmt. Daher erfreut es, wenn nun eine mit dem Thema in ihrem Kerngeschäft über mehr als 170 Jahre so tief erfahrene Institution wie die Diakonie Deutschland eine Herausgeberschaft beauftragt, die theologisch sehr berufen und in weiten Feldern praxiserfahren ist. Die Erwartung des Lesers, eine ordnende und theologisch klärende Annäherung an das Thema zu erhalten, wird allerdings bereits beim Studium des Klappentextes in Frage gestellt. Auch hier findet sich zuerst eine Perspektive der Angstmache: »Einsamkeit wird – anders als Alleinsein – von schmerzlichen Empfindungen begleitet, kann nicht willentlich beendet werden und sich negativ auf Wohlbefinden und Gesundheit auswirken.« Diese entmutigende These würde bedeuten, Einsamkeit wäre eine schicksalhafte Krankheit, deren Verlauf ich zu ertragen habe. Aber mit der Einsamkeit verhält es sich so, dass sie im täglichen Lebensvollzug eine immer wiederkehrende Grundbefindlichkeit des Menschen ist, mit deren Umgang er sich ganz zentral und langfristig im Rahmen seiner Charakterbildung zu befassen hat, um in der Betroffenheit durch sie besser willentlich reaktionsfähig zu werden – sei es in Richtung ihrer Beendigung oder in Richtung ihres Genusses! Man darf fragen, ob es den Herausgebern im Kern nicht vielmehr um das in modernen Gesellschaften zunehmende Phänomen struktureller sozialer Ausgrenzung und Entwertung menschlicher Arbeitskraft geht, aber nicht um die Einsamkeit des Menschen als sein Wesensmerkmal.

Dieses sehr offene und leider dem Medienmainstream verpflichtete Konzept setzt sich in der Ordnung des Buches fort. 31 Aufsätze auf weniger als 300 Seiten lassen nur kurze Schlaglichter zu. Es finden sich Texte aus verschiedensten Perspektiven, die in fünf Abteilungen gegliedert wurden: I. Biblisch-Theologische; II. Kirchlich/Diakonische; III. Medizinische/Psychologische/Soziologische/Philologische/Gesellschaftliche; IV. Einsamkeit in spezifischen Zeiten und Lebenslagen; V. Mit Einsamkeit umgehen. Eine übergreifende und vor allem im Zugang ordnende Konzeption, die unter anderem eine theologische Note vertreten würde, ist nicht zu erkennen. Aus Platzgründen kann die Kritik hier nicht weiter vertieft werden. Eine letzte Bemerkung zum Inhaltskonzept: Es erscheint aus Sicht der aktuellen gesellschaftlichen Lage m. E. schwer nachvollziehbar, dass sich kein einziger Aufsatz auf die Situation der Jugend fokussiert. Dagegen beschäftigen sich sechs Texte explizit mit der Situation alter Menschen. Wenn der Inhalt als Sammlung von Texten aus verschiedensten Tätigkeitsfeldern der Diakonie verstanden werden kann, dann wird hier die Kinder- und Jugendarbeit schmerzlich vermisst.

Inhaltlich finden sich trotz der wenig tröstlichen Grundperspektive in der Annäherung an das Thema eine Vielzahl an erbaulichen und erhellenden Beiträgen von namhaften Autoren aus verschiedensten Disziplinen, die nur selten den Alarmismus und geforderten Aktionismus für die Schwachen teilen.

Die biblischen und theologischen Perspektiven sind in fünf Texten besorgt. Keine geringere als Annette Kurschus beschäftigt sich gleich zu Beginn mit der Wüste als biblischem Topos für Einkehr und Selbstbegegnung in der dort gefundenen Einsamkeit. Ihr Fazit: Einkehr und Stille sind starke Herausforderungen, sie fördern einen Prozess der nach innen gerichteten Selbstwahrnehmung und -steuerung, der zur persönlichen Krise führt. Diese kann uns stärken, aber auch zur Hilfsbedürftigkeit führen. Wird die angemessene Hilfe gewährleistet, dann kann die Verunsicherung zur Gotteserfahrung werden. Tobias Kirchhof liefert eine sehr lesenswerte Arbeit über die Einsamkeit Gottes und die Sologamie des Menschen. Mit Karl Barth wird unter Berücksichtigung der Passion des Sohnes festgehalten, dass Einsamkeit auch für Gott ihren bedrohlichen Charakter behält, da »ihre Überwindung von einem ›Anderen‹ abhängig ist« (65). Sowohl Geschöpf als auch Schöpfer tragen »die Anlage zur Einsamkeit und dem Leiden daran in sich« (ebd.). Die Selbstheirat wird vom Autor letztlich positiv beurteilt, als Proklamation einer lebendigen Selbstbeziehung, die eine Voraussetzung für ein Leben in Gemeinschaft bedeutet.

Die folgenden kirchlichen und diakonischen Perspektiven verteilen sich auf weitere fünf Texte. Kristina Kühnbaum-Schmidt versucht sich in theologischen Erkundungen zum Thema und will kirchliche Herausforderungen benennen. Der Autorin ist in einer Hinsicht unbedingt zuzustimmen, wenn sie schreibt: »Die Erzählungen und Metaphern von der Grenzen aufbrechenden Liebe und der Gemeinschaft Unterschiedlicher gehören zur Tiefenstruktur neutestamentlicher Narrative.« (75) Leider wird diese Fähigkeit zur Einsamkeitsbewältigung der Urchristen nicht tiefer verfolgt und kann dadurch nicht zum Impuls einer kirchlichen Aufgabe werden. Soweit ersichtlich, ist die Autorin entgegen der rekordhohen Austrittszahlen von der Vorbildlichkeit kirchlich-gemeindlichen Lebens als sorgender Gemeinschaft im Hinblick auf das ihrer Meinung nach beängstigende Massenphänomen überzeugt. Der sehr lesenswerte Text von Traugott Roser führt dort deutlich weiter. Er weist auf die Möglichkeiten des Umgangs mit Einsamkeit im pastoralen Amt hin, arbeitet sich in die Tiefe der subjektiven Erfahrung vor und greift auf einen breiten Fundus an katholischen pastoraltheologischen und -psychologischen Perspektiven zurück. Er macht verständlich, dass pastorale Tätigkeit nicht in erster Linie die Ermöglichung von Nähe ist, »sondern die Vermittlung von Solidarität in Schmerz und Sehnsucht« (94), welche sich durch das Leben im Glauben angesichts der Daseinsnöte einstellt. Roser erkennt, dass die Kommunikation des Evangeliums auf der Solidarität mit Einsamen aufbaut, »einsamkeitssensible Kommunikation« (ebd., zit. n. Lorenzen/Noth) ist. Eigene religiös-spirituelle Bewältigung von Einsamkeit ist im Pfarrberuf also die Voraussetzung für eine gelingende Nähe zu Menschen in der Verkündigung. Und so kommt Roser zum Schluss, dass das einsame Gebet der Weg im persönlichen Umgang des Pfarrers mit Einsamkeit sein kann.

Im mittleren Teil der Sammlung werden in neun Aufsätzen verschiedenste Inhalte vor allem aus epidemiologischer und psychologischer Perspektive versammelt. Aus Sicht der psychotherapeutischen Konzepte stehen fehlende Bewältigungsmöglichkeiten von Einsamkeit in späteren Phasen des Lebens mit belastenden Einsamkeitserlebnissen in der frühen Prägungsphase in Zusammenhang. Einig scheinen sich die Autoren darin, dass Einsamkeit durch begleitete Einsamkeitserfahrung in der therapeutischen Beziehung erträglich wird. Die epidemiologischen Perspektiven zeigen vor allem auf, dass das durch Fragebogen operationalisierte Phänomen sehr oberflächlich und begrenzt ist, daher die gewonnenen Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden müssen. M. E. fehlen bis heute vor allem größere und differenziertere Studien, die zum gemessenen Einsamkeitserleben z. B. eine mögliche zugrundeliegende psychische Erkrankung erheben und auch die Reihenfolge der Genese klären. In diesem Abschnitt ist vor allem der Perspektive vonJohann Hinrich Claussen zu folgen, der sich fragt, ob Einsamkeit tatsächlich »bekämpft« werden muss? Auch in vielen der übrigen gebotenen Texte scheint sein Zitat von Jaspers eine wichtige Grundorientierung: »Ich selbst sein, heißt einsam sein.« (195) Der Blick auf die Einsamkeit in besonderen Lebensphasen richtet sich vor allem auf die Situation alter Menschen. Dabei fordern verschiedene Autoren wiederholt einen Wandel in der Grundperspektive der Gesellschaft: Strukturelle Angebote sollten nicht nur fürsorglich auf die Kompensation von Schwächen im Alter fokussieren, sondern auf die Stärken zugehen und eine Teilgabe zum Ziel haben. Gereifte Menschen haben bleibende Fähigkeiten, weiter sorgend im Austausch mit anderen aktiv einen Beitrag leisten zu können.

Im letzten Abschnitt des Buches werden mit vier kurzen Aufsätzen Zugänge zum Umgang mit Einsamkeit beleuchtet. Die Einsamkeit wird hier deutlich als zentrale Kraftquelle des Menschen benannt, wenn sie auch in der unfreiwilligen Begegnung als Herausforderung in der Selbstliebe angenommen wird.