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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

604-607

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tietz, Christiane [Hg.]

Titel/Untertitel:

Bonhoeffer Handbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 538 S.= Handbücher Theologie. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161500817.

Rezensent:

Lisanne Teuchert

Nachdem in derselben Reihe 2016 das Barth- und 2017 das Bultmann-Handbuch erschienen sind, ist es schon als solches begrüßenswert, dass Christiane Tietz einer entsprechenden Einladung des Verlags gefolgt ist und 2021 ein Bonhoeffer-Handbuch herausgegeben hat.

Sein Ziel soll es sein, einerseits die breite Rezeption Bonhoeffers zu berücksichtigen, andererseits – wohl als kritisches Korrektiv dieser Rezeption – »die biographischen, historischen und geistesgeschichtlichen Hintergründe seines Lebens und Denkens so sorgfältig wie möglich zu erheben.« (V). Gegenüber der oft selektiven Rezeption sollen Konzepte und Zusammenhänge statt populärer Phrasen im Zentrum stehen (vgl. ebd.). Als Beitragende fungieren »zahlreiche große Bonhoeffer-Forscher der zweiten Generation« (ebd.), während aus der ersten Generation einige namentlich Genannte nicht mehr mitwirken konnten. Das Bedauern der Herausgeberin darüber ist verständlich. Dieser Umstand trägt aber auch dazu bei, das Handbuch nicht zu sehr zu einem Spiegel der entsprechenden Forschergeneration werden zu lassen.

Wie bei den Handbüchern der Reihe üblich, gliedert sich der Band in Person, Werk, Wirkung und Rezeption. Kompakte Abschnitte von in der Regel sechs bis zehn Seiten führen in wichtige, sinnvoll ausgewählte Aspekte des jeweiligen Bereichs ein. Das gilt auch für die Darstellung der Werke. Nur wenige Beiträge kamen mit diesem knappen Umfang nicht aus, liegen aber mit längstens 24 Seiten (so die »Biographie«) immer noch im Rahmen eines Handbuchs und bieten ein Format, das sich gegenüber den sonst in der akademischen Literatur verfügbaren Zusammenfassungen abhebt.

Den genannten Teilen ist ein Teil A »Orientierung« vorgeschaltet, der eine Übersicht über Ausgaben und Hilfsmittel aus der Feder Ilse Tödts enthält. Auch Filme werden hier z. B. aufgeführt. Die Darstellung ist chronologisch-genealogisch orientiert. Vielleicht hätte zur »Orientierung« noch ein Listenformat beigetragen.

Christiane Tietz gibt anschließend einen Überblick über die Bonhoeffer-Forschung und bündelt dabei in hilfreicher Weise Generationenwechsel und deren Auswirkungen. Besonders interessant liest sich ihre Prognose, wohin sich die Bonhoeffer-Forschung demnächst entwickeln könnte (vgl. 19), nämlich in Richtung eines erhöhten Publikationsaufkommens in der englischsprachigen Welt, Meta-Forschung an der ersten Generation, Verhältnisbestimmungen von Bonhoeffer und anderen Gestalten seiner Zeit (Bonhoeffer ist nicht als die einzige Lichtgestalt darzustellen) und Einzelfragen wie »anthropologische Voraussetzungen Bonhoeffers in Bezug auf Sprachverständnis, Gefühle, Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit; Bonhoeffers eschatologisches Denken; die Theologie von Bonhoeffers Predigten; aber auch immer noch das Verhältnis von Bonhoeffer und Barth« (20).

Im Teil zur »Person« (B) werden Traditionen, Aneignungen, Beziehungen und Prägungen behandelt. Selbst ein so umfangreiches Thema wie die Beziehung zwischen Barth und Bonhoeffer wird von Michael Beintker historisch detailliert und zugleich systematisch gebündelt bewältigt. Unter »Prägungen« ist es begrüßenswert, dass im Sinn des holistischen Gesamtansatzes des Bandes auch Sprache und Musik geführt werden, auch wenn insbesondere die Sprache eher wie ein Thema bei Bonhoeffer behandelt wird als eine Prägung, die ihn von außen her erreicht. Der große Teil zum Werk Bonhoeffers (C) gliedert sich in »Texte« – neben den Hauptwerken sind das Brautbriefe, Gedichte und Predigten – und »Themen«, die das theologische Denken Bonhoeffers systematisch erschließen.

Die »Texte« beginnen jeweils mit einer Vorgeschichte oder bio-grafischen Einordnung und stellen dann wichtige inhaltliche Schritte des Werks dar, die durch Zwischenüberschriften übersichtlich und pointiert gehalten sind. Manchmal wird auch die Rezeption eines Werks berücksichtigt, was dort besonders sinnig scheint, wo die kirchliche von der akademischen Rezeption abweicht (etwa bei »Nachfolge«, vgl. 248).

Die Auswahl der »Themen« ist überzeugend. Sie folgen im Grunde den dogmatischen Loci und schließen die Ethik an. »Religionsloses Christentum« verdient bei Bonhoeffer einen eigenen Punkt, der hier am Ende untergebracht wird. Die Liste der Themen zeigt zugleich, wo weitere Forschungsmöglichkeiten zu »Einzelthemen« (s. o.) lägen, z. B. in der Eschatologie. Eingegangen werden kann hier nur auf einige wenige Beiträge.

Karsten Lehmkühler gelingt in einer schwungvollen Darstellung zum gewichtigen Thema »Jesus Christus« eine Gesamtsystematisierung entlang der Spannung zwischen religionsloser Welt und christologischer Totalinterpretation der Wirklichkeit. Wer nachlesen will, wie Bonhoeffer zu Person und Werk Christi, zum Chalcedonense oder zu Spezifika lutherischer Dogmatik steht, wird hier fündig; wer etwas vom Denken Bonhoeffers im Ganzen begreifen will, auch. Wolf Krötke wirbt in seinem Beitrag zur »Ökumene« eindringlich dafür, Bonhoeffer als durchgängig ökumenisch bewegt und engagiert zu begreifen, nicht nur in der Zeit seines aktiven Engagements 1931–1937. Im Beitrag zur »Ethik« stellt Bernd Wannenwetsch die Mandatelehre positiver dar, als Barth und manch anderer Kritiker es ihr zugestanden hätte, und verortet die Wirklichkeitsgemäßheit als Kriterium der Ethik-Fragmente mit in Bonhoeffers Ekklesiologie. Ob sich Wirklichkeit bei Bonhoeffer auf Kirche bezieht oder ob es eine Entwicklung vom Thema Kirche zum Thema Wirklichkeit gibt, ist allerdings eine Frage, die von den Beitragenden unterschiedlich beantwortet wird (vgl. z. B. Reuter 374). So entsteht einer der Zusammenhänge, die mit dem Band hergestellt werden sollen. Im Beitrag zum »Widerstand« von Hans-Richard Reuter erscheinen nach einer vorbildlichen Begriffsklärung erste Redundanzen etwa zum Ethik-Beitrag, die sich aber kaum vermeiden lassen und in Grenzen halten.

Die Beiträge formulieren jeweils Punkte, die die Forschung ihrer Meinung nach zu wenig berücksichtigt hat (z. B. den Einfluss des Naturrechts auf Bonhoeffers Interpretation des Tötungsverbots, vgl. 375). Auch Kritik an Bonhoeffer wird aufgenommen, so z. B. an seinem Schriftgebrauch in der Finkenwalder Zeit (vgl. 317).

Im Teil zu Wirkung und Rezeption (D) wird zunächst nach Namen gegliedert (Barth, Bethge, Ebeling), dann nach Staaten (BRD/DDR), dann Kontinenten (Amerika und die englischsprachige Welt, Südafrika, Asien). Schließlich werden die schönen Künste und die katholische Rezeption behandelt. Die Berücksichtigung der außereuropäischen Rezeption trägt sehr zur Breite des Handbuchs bei. Es ließe sich freilich fragen, ob – wenn es einen katholischen Beitrag gibt – nicht auch die freikirchliche Rezeption Bonhoeffers einen Beitrag hätte füllen können.

Dass nicht noch mehr Forschende aus der jüngsten Generation Eingang gefunden haben, lässt sich mit der langen Projektdauer (laut Vorwort zehn Jahre) erklären. Christina-Maria Bammel, Tim Lorentzen (beide geb. 1973) und Florian Schmitz (geb. 1980) steuern aber eigene Beiträge bei, andere wie Nadine Hamilton werden hin und wieder erwähnt. Vielleicht hängt mit dieser Gesamtverteilung auch zusammen, dass der Begriff »Kirchenkampf« häufig ohne Erläuterung verwendet wird (nicht in den kirchengeschichtlichen Beiträgen von Strohm und Lorentzen).

Insgesamt bietet das Handbuch eine kompakte Bündelung zu Bonhoeffers Person, Werk und Wirkung durch kompetente Beitragende, wie sie in vergleichbarer Form noch nicht vorliegt. In diesem Umfang erscheinen sonst entweder Biografien oder Gesamtdarstellungen der Theologie Bonhoeffers. Wenn beides berücksichtigt wird, dann oft eher in didaktischer Zielrichtung oder für den außerakademischen Markt. Der damit einzigartige Band wird dem Vorhaben gerecht, Bonhoeffer breit zu behandeln – als Person, systematischen, aber auch praktischen Theologen, als Erbauungsschriftsteller und global rezipierte Gestalt. Besonders spannend wird es dort, wo aus berufener Feder summarische Darstellungen und Einschätzungen gegeben werden, so im erwähnten Forschungsausblick von Tietz oder bei der Rezeption Bonhoeffers in der BRD und DDR. So werden Studierende, allgemein Interessierte und akademisch Forschende gleichermaßen Nutzen aus diesem monumentalen Band ziehen, der bald zum unverzichtbaren Standardwerk avancieren wird. Die langjährige Arbeit daran hat sich zweifelsohne gelohnt!