Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

587-589

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Phillips Wilson, Annalisa

Titel/Untertitel:

Paul and the Jewish Law. A Stoic Ethical Perspective on his Inconsistency.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2022. 264 S. = Ancient Philosophy & Religion, 8. Geb. EUR 129,47. ISBN 9789004518285.

Rezensent:

Stefan Krauter

Seit den Pionierarbeiten von A. Malherbe und T. Engberg-Pedersen sind komparative Untersuchungen zu frühkaiserzeitlicher Philosophie, insbesondere Stoa, und paulinischen Briefen beinahe ein eigenes Genre innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft geworden. Die von J. M. G. Barclay betreute Durhamer Dissertation von Annalisa Phillips Wilson ist ein überzeugendes Beispiel dafür, dass dieser Ansatz auch nach sehr vielen inzwischen veröffentlichten Monographien und Bänden noch immer für interessante und weiterführende neue Einsichten gut ist.

Die Vfn. nimmt ihren Ausgangspunkt von der Forschungsdiskussion über die Widersprüchlichkeit mancher Aussagen des Paulus über das Gesetz, die insbesondere von H. Räisänen ausgelöst wurde. Auch wenn sich seit seinem Klassiker »Paul and the Law« in der Paulusforschung vieles verändert hat, ist doch irritierend geblieben, dass Paulus manchmal die Befolgung von Torageboten relativiert oder sogar von ihr abrät, während er sie manchmal hochhält oder sogar einzufordern scheint. Als Methode, mit diesem Befund umzugehen, wählt die Vfn. den Vergleich mit einem in der Antike diskutierten analogen Widerspruch: Der Umgang der Stoiker mit den adiaphora wurde von Vertretern anderer Philosophenschulen als widersprüchlich kritisiert. Einerseits sprachen sie ihnen jede ethische Relevanz ab, andererseits vertraten sie, dass manche von ihnen vorzugswürdig seien.

Die Vfn. geht in zwei Schritten vor: Zuerst gibt sie einen detaillierten, aber sehr gut lesbaren Überblick über das Thema der adiaphora in der stoischen Ethik. Sie systematisiert die widersprüchlich scheinenden Aussagen dahingehend, dass es einen first-order value »Tugend« gebe, hinsichtlich dessen adiaphora wie Gesundheit oder Besitz irrelevant sind, daneben aber auch second-order values, innerhalb derer Gesundheit oder Besitz durchaus mit rationalen Gründen zu bevorzugende Güter gegenüber Krankheit oder Armut sind.

In einem zweiten Schritt analysiert sie drei Textzusammenhänge beispielhaft: Anhand von Phil 3 und Gal 2 versucht sie zu zeigen, dass Paulus gegenüber dem Christusglauben alles andere relativiert. Toragebote auf derselben Ebene wie Christusglauben zu bewerten sei für ihn ein ebenso fataler Kategorienfehler wie für die Stoiker die Vermischung von Tugend und adiaphora. Anhand von 1Kor 8–10 untersucht die Vfn. die komplementäre Seite des Diskurses: Paulus gebe zwar denjenigen in Korinth recht, die das Essen von Opferfleisch für ein adiaphoron hielten. Deren Parole »alles ist [mir] erlaubt« (1Kor 6,12; 10,23) sei die korrekte Wiedergabe seiner eigenen Ansichten. Er argumentiere aber dagegen, dass alle adiaphora gleich vorzugswürdig seien. Vielmehr seien situativ manche Verhaltensweisen gegenüber anderen zu wählen, in Korinth diejenigen, die nicht andere von ihrer Orientierung auf Christus abbrächten. Zwischen der Argumentation in Phil, Gal und 1Kor bestehe also kein Widerspruch, vielmehr bewege sie sich auf zwei verschiedenen Ebenen, first-order value und second-order values.

In ihren Auslegungen der Textpassagen geht die Vfn. umsichtig mit der beinahe unübersehbaren Zahl von Forschungsmeinungen um. Sie bleibt nah an den Texten und deren argumentativem Duktus, ohne sich in exegetischen Details zu verlieren.

Ein letzter Abschnitt fasst die These der Vfn. nochmals prägnant zusammen und bezieht weitere Texte und den größeren Zusammenhang paulinischen Denkens ein. Vermutlich ist es in einer Dissertation nicht anders möglich, doch dieser Teil fällt leider etwas ab, weil der Durchgang durch die Texte (v. a. den Römerbrief) kursorisch bleibt.

Trotz dieser Schwäche des letzten Abschnitts ist das Buch in seiner Grundthese überzeugend. Die vergleichende Analyse erhellt die Argumentation des Paulus und macht sie in einem antiken Kontext verständlich. Ein zentraler Punkt bleibt allerdings unklar: In der Einleitung (chapter 1) und im kurzen Methodenkapitel (chapter 3) macht die Vfn. in Anschluss an Barclay (und indirekt J. Z. Smith) deutlich, dass »Vergleich« nichts mit der Behauptung genealogischer Zusammenhänge zu tun habe, vielmehr moderne Forschung Gegenstände, die vorab heuristisch als vergleichbar erscheinen, mit einem bestimmten Erkenntnisziel unter bestimmten Aspekten detailliert in ihren Übereinstimmungen und Differenzen darstelle und so zu einem neuen, vertieften (freilich immer noch weiter überholbaren) Verständnis der Gegenstände gelange. In den Ausführungen über Paulus findet man dann aber beinahe auf jeder Seite Formulierungen wie »he shares Stoic-like assumptions regarding the criteria for assessing selections and activities« (89) oder »Paul’s dramatic use of a value motif which echoes Stoic criteria, analogies, and rhetoric« (93). Zwar wird nie explizit behauptet, dass Paulus Anleihen bei der stoischen Philosophie genommen habe, aber es wird doch immer wieder suggeriert oder immerhin als Möglichkeit hingestellt. Das bedeutet, die Unterscheidung zwischen »Vergleich« und »genealogischer Erklärung« wird unterlaufen – m. E. fälschlicherweise und auch unnötigerweise. Die Frage, ob Paulus irgendeine Kenntnis kaiserzeitlicher stoischer Philosophie hatte, ist ebenso spannend wie vermutlich niemals abschließend zu klären, für die Untersuchung ist sie aber vor allem irrelevant.

Die Vfn. ordnet ihr Vorgehen in die verschiedenen Paulusperspektiven ein. Sie grenzt sich klar vom »Paul within Judaism«-Modell ab (7–10). Dessen Ansatz, die scheinbar widersprüchlichen Aussagen des Paulus vor allem durch Rekurs auf unterschiedliches Zielpublikum (Juden oder Nichtjuden) zu erklären, werde zwar manchen, aber bei weitem nicht allen Textpassagen gerecht. Die »alte« Paulusperspektive erwähnt sie nur beiläufig (6). Das ist m. E. eine vertane Chance. Denn manche Reformatoren argumentieren nicht unähnlich, wie die Vfn. es für Paulus darstellt: Sie sehen im Glauben einen unvergleichlichen first-order value und darum in der Lehre von den merita einen fatalen Kategorienfehler. »Gute Werke« (für sie aufgrund der Pastoralbriefe eine paulinische Formulierung) hingegen halten sie für zu bevorzugende second-order values. Ganz neue und alte Paulusauslegungen wären manchmal durchaus auch einen detaillierten Vergleich wert.