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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

567-569

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nagel, Peter [Hg.]

Titel/Untertitel:

Das Deuteronomium Sahidisch. Nach Ms. BL Or. 7594 der British Library mit dem ergänzenden Text und den Textvarianten des Papyrus Bodmer XVIII und der Handschrift M 566 der Morgan Library & Museum New York.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2020. XIV, 296 S. m. 6 Abb. u. 1 Tab. = Texte und Studien zur Koptischen Bibel, 2. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783447115339.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Die erste Textausgabe des Göttinger Akademievorhabens »Digitale Gesamtedition und Übersetzung des koptisch-sahidischen Alten Testaments« (gegründet 2015) ist ein Erbstück aus einem Vorgängerprojekt zur Edition der sahidischen Septuaginta am Institut für Orientalistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das 1994–1997 von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördert wurde. Peter Nagel erstellte damals eine handschriftliche Ausgabe, die Frank Feder, jetzt Leiter des Göttinger Projekts, zu einer Computerdatei umwandelte. Mit der Bewilligung des Göttinger Projekts wurde die Arbeit an der Ausgabe wieder aufgenommen; für die technische Gestaltung des Editionsteils hat sich Malte Rosenau, für die Indices haben sich mehrere Hilfskräfte des Akademievorhabens verdient gemacht (IX–X).

Geboten wird mit diesem Band nicht eine kritische editio maior des Deuteronomiums, sondern eine editio minor et mixta, falls diese Bezeichnung erlaubt ist: Der Text von London, British Library Or. 7594 (ca. 350 n. Chr.; = Bibelhandschrift sa 17 nach der Münsteraner Liste der koptischen Bibelhandschriften unter http://intf.uni-muenster.de/smr/LCBM_1.0_2021.pdf = sa 15 in der Liste von Schüssler und in dieser Ausgabe L), bei seiner Entdeckung im Jahre 1911 die älteste koptische Bibelhandschrift überhaupt (IX), wird diplomatisch wiedergegeben und, den Gepflogenheiten der Papyrologie und Koptologie entsprechend, zeilengetreu abgedruckt (ohne Korrektur der Orthographica, aber gelegentlich mit Ergänzungen, angezeigt durch spitze Klammern, sowie mit Kennzeichnung von Secludenda durch geschweifte und von physisch bedingten Lücken der Handschrift durch eckige Klammern). Wo diese Handschrift aussetzt, wird supplementiert aus zwei weiteren Handschriften, einerseits Papyrus Bodmer XVII (auch etwa 350 n. Chr.; = sa 2001 = sa 14 bei Schüssler und hier B) und andererseits Ms. Pierpont Morgan 566 (9. Jh. n. Chr.; = sa 2006 = sa 6 bei Schüssler und hier M), deren Text allerdings nicht zeilengetreu wiedergegeben wird. Wo sowohl B als auch M für die Supplementierung in Frage kommen, wird aus B supplementiert (VII–VIII; 16–17). Im Apparat werden Lesarten von B und M notiert, wo vorhanden. Weitere Textzeugen (Zoega 6; 10; 99) wurden nach der Ausgabe von Ciasca konsultiert, aber nicht im Apparat verarbeitet (vgl. 14–15; 20). Der Apparat ist dreigliedrig: Auf eine Zeugenleiste folgt ein Apparat mit Orthographica und dann ein Apparat mit textkritisch relevanten Lesarten, Emendationen inklusive. Geschaffen wird so ein Text, der das gesamte Deuteronomium abdeckt, bzw. – wie Nagel schreibt – eine »geschlossene, wenn auch nicht homogene, Textdecke« für das Deuteronomium (IX); nicht homogen ist die Textdecke deshalb, weil die Textzeugen unterschiedlich profiliert sind (s. u.). Die Einleitung (1–20) enthält unter anderem eine Beschreibung der Londoner Handschrift und Übersichten über die sprachlichen Eigentümlichkeiten des sahidischen Deuteronomiums sowie über sein textkritisches Profil. Eine deutsche Übersetzung des sahidischen Texts gehört ebenfalls dazu (167–218), mitsamt Erläuterungen (219–225), ferner Indices für sämtliche Konjugationsformen (229–239) und dann die koptischen wie auch die griechischen Wörter (240–290), jeweils mit Bedeutungsangabe, so dass also ohne Wörterbuch übersetzt werden kann; auch Eigennamen werden dokumentiert (291–295). Frank Feder und Heike Behlmer, verantwortlich für das Göttinger Akademieprojekt, steuern ein Vorwort der Herausgeber bei (VII–VIII), das die vorliegende Ausgabe als Dokument einer vergangenen Epoche darstellt, und man erfährt: Mit der »digitalen Edition« bricht ein neues Zeitalter an; man vereint jetzt und künftig Handschriftensurrogate in virtual manuscript rooms; die oft auf mehrere Bibliotheken verteilten Handschriften sind damit (soweit erhalten) rekonstruiert; sie können transkribiert, automatisch kollationiert und zu einer digitalen Edition verarbeitet werden (VIII).

Man fragt sich, was damit eigentlich anderes mitgeteilt wird, als dass fortan unter größerem Einsatz technischer Hilfsmittel kollationiert werde. Immerhin, dies geschieht jetzt unter Einbeziehung der Öffentlichkeit; ein Besuch im »Handschriftenraum« des Göttinger Projekts lohnt sich, s. unter http://coptot.manuscriptroom.com/. Und ohne Frage ist das Kollationieren im gegebenen Projekt mit besonderen Herausforderungen verbunden: Man hat es nicht selten mit stark fragmentierten und über mehrere Bibliotheken verteilten Handschriften zu tun. Neue Techniken digitaler Bildbearbeitung können hier in der Tat weiterhelfen. Gleichwohl, es darf zweierlei nicht übersehen werden: 1. Textkritik ist vor allem eine hermeneutische/geisteswissenschaftliche Aufgabe, für die mit der Datenerhebung nur die Voraussetzung geschaffen ist. Die eigentliche Arbeit ist dann a. Erklärung von Variantengenese, b. Rekonstruktion von Textgeschichte, c. Selektion von Varianten aufgrund von verstehendem Umgang mit dem zu edierenden Text und schließlich d. Konjekturalkritik aufgrund von Einsicht in dessen Eigenart. 2. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Editionsprojekte ohne digital humanities gar nicht (mehr) denkbar seien. Kürzere Texte und überschaubar bezeugte Texte ediert man effizienter mit einem eher sparsamen Einsatz von Computertechnik. Davon kann man aber die Drittmittelgeber nicht überzeugen, weil diese zunehmend auf die Digitalkomponente fixiert sind. Insofern gilt: Digital humanities blockieren textkritische Innovation. Sie sollten als Notlösung gelten, nicht als Standard. Im Übrigen scheint vieles, was im Bereich digital humanities unternommen wird, unnötig: Gute Digitalisate von Handschriften sind eine Hilfe, aber müssen sie getaggt sein? Braucht die Fachwelt Hilfestellung beim Lesen von Handschriften und beim Übersetzen von Kollationstexten?

Einige interessante Aspekte der hier geleisteten Arbeit am sahidischen Deuteronomium seien gesondert hervorgehoben:

1. Die Arbeit an der London, BL or. 7594 und am sahidischen Deuteronomium hat eine Vorgeschichte: Budge hat die Londoner Handschrift 1912 ediert, leider sehr fehlerhaft, was kritisiert wurde (vgl. Rezensionen von Crum; Dieu, Leipoldt, Rahlfs; 17). Thompson hat 1913 Berichtigungen vorgenommen, die bis 1929 nur privat weitergegeben wurden (19). Von Seidel stammt eine unpublizierte Dissertation zur Textüberlieferung des sahidischen Deuteronomiums (Halle-Wittenberg 1985; auch jetzt im Netz nicht auffindbar; Digitalisierung wäre hier eine gute Sache).

2. London, BL or. 7594 enthält neben dem Deuteronomium auch – in dieser Reihenfolge – das Buch Jona, die Apostelgeschichte und ein Exzerpt der koptischen Apokalypse des Elia. Die Handschrift ist aus zwei Teilen zusammengesetzt, die sich paläographisch unterscheiden: Dtn und Jon bilden den ersten, Acta und Apc Eliae den zweiten Teil. Dokumente aus der Kartonage reichen bis zum Jahre 320 n. Chr. (1–3). Hat man hier Handhabe, mit der Datierung des Deuteronomium-Textes der Handschrift weit in die erste Hälfte des 4. Jh. n. Chr. zurückzugehen (gegen einen neueren Trend zur Spätdatierung prominenter koptischer und griechischer Majuskeln)? Zu beachten ist: Die Kartonage bietet einen terminus ante quem non lediglich für den Einband.

3. Unter den drei Textzeugen weist am allerehesten M als der späteste Modernisierungen auf, unter anderem Anpassungen an griechische Bibeltextüberlieferung (13–15).

4. Besondere Beachtung verdienen Sonderlesarten von L, die durch Septuaginta-Überlieferung nicht gedeckt sind, von denen hier eine erörtert werden soll (vgl. 14–15): Die Anfangszeile des Schma Israel (Dtn 6,4a) lässt in L, aber auch in anderen koptischen Textzeugen, Besonderheiten erkennen. Wo die Septuaginta ἄκουε Ἰσραήλ, κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν κύριος εἷς ἐστιν hat, findet sich in L sôtem pisraêl, ouaa pe pğoeis (»Höre Israel, einer ist der Herr«). B und Zoega 6 bezeugen stattdessen sôtem pisraêl, pğoeis pennoute, ouaa pe pğoeis (»Höre Israel, der Herr, unser Gott, einer ist der Herr«) und M, sekundiert durch die bohairische Überlieferung, sôtem pisraêl, pğoeis peknoute oua pe (»Höre Israel, der Herr, dein Gott, ist einer«).

Seidel und Nagel tun sich mit einer Erklärung des Befundes schwer (14–15). Meines Erachtens liegt folgendes textkritisches Szenario zugrunde: L bietet den ursprünglichen Text, einen Kurztext, der in B und Zoega 6 aus der Septuaginta supplementiert erscheint, freilich auf syntaktisch unstimmige Weise, womit sich der Mischcharakter und damit das Sekundäre dieser Lesart erweist. M und die bohairische Überlieferung machen aus der von B und Zoega 6 bezeugten Lesart einen idiomatischen Text.

Die ursprüngliche Lesart (»Höre Israel, einer ist der Herr«) kann dahingehend erklärt werden, dass hier der Anfang des Schma umgeformt wurde zu einer monotheistischen Parole, die sprachlich nahestehende Parallelen findet bei Xenophanes, Frgm 23 III; Maximus Tyrius 11,5a; Sach 14,9; Aristeasbrief 132; Ps-Phokylides 54; Oracula Sibyllinica III,11; Mk 12,32; 1Kor 8,4; Eph 4,5; 1 Tim 2,5; Jak 2,19; Ign Magn 8,2, vgl. den Exkurs zu Jak 2,19 bei C. Burchard: Der Jakobusbrief (HNT 15/I), Tübingen 2000, 122–123. Unter dem Einfluss griechischer Philosophie und fußend auf altisraelischer Tradition hat sich im Judentum eine Neigung zu Monotheismus-Parolen herausgebildet, die dann auch in frühchristlichen Texten begegnen (und weiterentwickelt scheinen in christologischen Formeln wie κύριος Ἰησοῦς in 1Kor 12,3). Zu beachten ist dabei: Anders als der wohl ursprüngliche Text von Dtn 6,4 (sah) konstatieren diese Bekenntnisse nicht, dass »der Herr« einer ist, sondern dass »Gott« einer ist, vgl. etwa θεὸς εἷς ἐστι in Or Sib III,11. Nur in Sach 14,9 verhält es sich anders, vgl. ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ ἔσται κύριος εἷς in Sach 14,9LXX. Vielleicht bezeugt der ursprüngliche Text von Dtn (sah) ein jüdisches Residuum. Es mögen andere ergründen, ob er einem koptisch-sprachigen Judentum und einer (mündlichen?) Übersetzungspraxis koptischer Juden entstammen kann.