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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

518-520

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Uhlhorn, Frank A.

Titel/Untertitel:

Kybernetik.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2023. 138 S. = Kompendien Praktische Theologie, 6. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170340787.

Rezensent:

Eberhard Blanke

Mit der »Kybernetik« von Frank A. Uhlhorn, Superintendent in Göttingen, ist der sechste Band der »Kompendien Praktische Theologie« (hrsg. v. Thomas Klie, Rostock, und Thomas Schlag, Zürich) aus dem Kohlhammer-Verlag Stuttgart erschienen. Die Reihe beabsichtigt, »kompakte und anschauliche Überblicke über die Teilgebiete der Praktischen Theologie« (Verlag) zu geben und hat insbesondere Studenten und Vikare in Vorbereitung auf ihre Prüfungen sowie Pfarrerinnen und Pfarrer im Blick. Die Reihe hat einen doppelten Anspruch: Die Bände sollen kompakt und dennoch lesbar, überblickshaft und dennoch detailreich sein. Für die »Kybernetik« von U. kommt hinzu, dass sie eine Steuerungstheorie des sozialen Systems Kirche über die bekannten Kirchentheorien hinaus liefern möchte. Es geht, gegenüber bisherigen Theorien erster Ordnung, um eine »Kybernetik zweiter Ordnung« (96), die »von ›Was-Fragen‹ auf ›Wie-Fragen‹« (12) umstellt. In diesem Sinne entwickelt U. eine »Versuchsanordnung« (15.101 ff.), die das Funktionieren der nicht-berechenbaren »black box« (101 f.) Kirche modelliert.

Ausgangspunkt ist die systemtheoretische Definition einer Organisation als »nicht-kontingente Verknüpfung zweier kontingenter Sachverhalte« (109). »Im Fall der Kirche stellen die Entscheidung für eine Mitgliedschaft auf der einen Seite und die Strukturen der Organisation auf der anderen Seite die beiden kontingenten Sachverhalte dar.« (104) In generalisierter Form handelt es sich um das Miteinander von Semantik und Struktur. Sie sind je für sich variabel, ihre Verknüpfung jedoch ist notwendig. Anhand dieser Unterscheidung zeichnet U. die kybernetischen Möglichkeiten nach, die in den exemplarisch vorgeführten Epochen der Kirchengeschichte gegeben waren.

Nach der Einleitung (Kapitel 1), die einen Überblick zum Buch gibt, skizziert U. in Kapitel 2, wie mit dem Apostel Paulus ein »expansive(r) Dynamismus« der Kirche entsteht, der die »Universalität der möglichen Mitgliedschaft mit der Exklusivität der faktischen Mitgliedschaft« (N. Luhmann) verbindet. Auf diese Weise hat sich das Christentum in der damals bekannten Welt rasch ausgebreitet. Kapitel 3 beschreibt, wie sich die Kirche im Römischen Reich analog zum Imperium aufgebaut hat (30). In dieser Zeit wurde die kirchliche Semantik (= Dogmatik) unabhängig von Eintritts- und Austrittsentscheidungen ihrer Mitglieder konzipiert (31). Das stratifikatorisch aufgebaute Mittelalter (Kapitel 4) zementiert diese Diastase, indem die Dogmatik ihren historischen Höhepunkt und die Möglichkeiten der Entscheidung für oder gegen die Kirche ihren Tiefpunkt erreichen. Schließlich zerbricht die durch den Kö- nig – seit Chlodwig I. (466–511) – symbolisierte Einheit der Gesellschaft (40). Die Reformation (Kapitel 5) ist durch den Buchdruck und die entstehende Öffentlichkeit geprägt. Der (individuelle) Glaube wird zur Entscheidung, wodurch die religiöse Semantik auf ihre Struktur zurückwirkt. »Gesellschaftsstruktur und Semantik befinden sich nicht mehr in synchronisierter Abstimmung, sondern durch den Buchdruck kann sich die Semantik schneller ändern und die Erwartung provozieren, dass die Strukturen sich dem anpassen müssen.« (47)

Im Kapitel 6 zu Schleiermacher beschreibt U. ausführlich, wie die Dogmatik, jetzt Theologie, eine Funktion der Kirche wird. Die doppelt-kontingente Relationierung von Semantik und Struktur tritt als freie Geistesmacht und Kirchenregiment auf. »Indem die Kirchenleitung dafür sorgt, dass für diese Zirkulation [der freien Geistesmacht] Strukturen geschaffen werden […] ermöglicht sie, dass die Religion ein soziales System (vgl. KD §§ 2 f.) bildet.« (56) In der Moderne des 20. Jh.s kommt es laut Kapitel 7 zu einer Kybernetik zweiter Ordnung, bei Karl Barth durch Ablehnung, bei Ernst Lange dank Durchführung: »Über die Position der Beobachtung zweiter Ordnung gelingt es Lange, sowohl die gesellschaftlichen Veränderungen wahrzunehmen als auch Maßnahmen in die Wege zu leiten, die das System ausrichten, um neue Informationen aus seiner Umwelt zu verarbeiten.« (67) In Kapitel 8 diskutiert U. gegenwärtige Entwürfe u. a. von Jan Hermelink und Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong. Deren Ansätze, die sich auf Schleiermacher zurückführen lassen, kommen laut U. nicht über ontologisch verfasste Kirchentheorien hinaus. Sie argumentieren im Kontext einer Kybernetik erster und nicht einer Kybernetik zweiter Ordnung. »Während Schleiermachers Unterscheidungen einen Gleichgewichtszustand beschreiben und immer wieder herstellen sollen, begreift ein kybernetischer Ansatz die Leistung von komplexen Systemen als vorübergehende Anpassung an vorübergehende Lagen.« (62) In Kapitel 9 unterzieht U. seine historische Darstellung einer systemtheoretischen Re-Lektüre, indem er das jeweilige Verhältnis von Semantik und Struktur der Kirche genau beleuchtet: »Es ist deutlich, dass die Organisation Kirche auf dieser Ebene ein Defizit hat.« (104) Deshalb ist zu fragen, »wie die Organisation Kirche ihre Dogmatik methodisch auf die Entscheidung der Mitglieder abstellen könnte« (32).

In Kapitel 10 werden schließlich exemplarische Programme einer Kybernetik zweiter Ordnung entwickelt, die zur strukturellen Steuerung der Kirche genutzt werden könn(t)en. Sie fungieren als »Supplemente« (116) des religiösen Codes Transzendenz/Immanenz. U. nennt die Programme »Theologie der Kontingenz« (116 f.), »Inklusion« (118 f.) und »Governance« (120 f.). Organisatorisch sind die Programme im Prinzip der »Stelle« verankert: »Die Strukturfragen wer?, was? und wie? kulminieren am Prinzip der Stelle und können hier festgelegt werden.« (114) Damit wird die kirchliche Organisation zur »Umschaltebene« (113) zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und interaktionellen Vollzügen. »Die Typendifferenz von Gesellschaft, Organisation und Interaktion […] kann dadurch überbrückt werden, dass die Organisation Entscheidungsprämissen setzt, die die Interaktionssysteme ›als umweltgegeben‹ (Luhmann 2019, 50) voraussetzen müssen.« (116) Im Resümee (Kapitel 11) führt U. an den Anfang seiner »Versuchsanordnung« zurück: »So wiederholen wir die Eingangsfrage aller Kybernetik […]: Wie kann eine Organisation Kirche zeitgemäß aufgestellt werden und vor allem: wie funktioniert ihr Funktionieren?« (126)

Fazit: Die »Kybernetik« von U. löst die Erwartungen an ein »Kompendium« für die universitäre Lehre ein. Insbesondere in der analytischen Darstellung bisheriger Kirchentheorien zeigt sich die Stärke des systemtheoretischen Ansatzes, zumal die teils abstrakte Begrifflichkeit durch Anwendungsbeispiele und Hintergrunderläuterungen eingeholt wird. Das von U. entwickelte Modell einer Kybernetik zweiter Ordnung lässt zwar manche Detailfragen offen, lädt aber, dank des experimentellen Tons, zu weiteren Überlegungen ein. Es entlässt den Leser mit der Maxime: »Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst (von Förster/Poerksen 2016, 36).« (13) Damit ist der überfällige Abschied von einer »Rationalität des Richtigen« (15 f.94) bezeichnet, die auf kausale Durchgriffe gesetzt hatte. Es gilt: »Wer konzeptionell neue Freiheiten für die Entwicklung der Organisation Kirche entdecken will, muss mit dem Unkalkulierbaren rechnen.« (96)