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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

514-516

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael

Titel/Untertitel:

Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 348 S. m. 1 Abb. = Theologische Bibliothek, 7. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783525553091.

Rezensent:

Jan Hermelink

In der Reihe »Theologische Bibliothek« – sie will laut Verlags- Website »einen Beitrag zu einem heutigen Gespräch über religiöse Fragen leisten« – hat der emeritierte Religionspädagoge und Liturgiker Michael Meyer-Blanck einen informativen, gut lesbaren Band über »Kirche« vorgelegt. Er verbindet durchgehend »Einsichten des Glaubens und Ergebnisse außertheologischer Beschreibungen« (31), um eine »verständliche Theorie der Kirche zu bieten« (Vorwort, 13).

Die ersten drei Paragraphen bieten eine »Grundlegung«. Geglaubte und beobachtete Kirche werden kontrastiert und die Zusammenhänge von Kirchentheorie, -kritik und -reform aus dezidiert praktisch-theologischer Sicht bedacht (§ 1). Die Kirche wird als Institution, Organisation, Interaktion/Inszenierung und insgesamt als »Hybrid« skizziert (§ 2); auf 25 Seiten wird eine ganz kursorische, »Kleine Geschichte der Kirche« (§ 3) vorgelegt.

Ein zweiter Teil bietet »Perspektiven« zunächst auf die Kirche als Ensemble spezifischer kultureller Zeichen sowie konkreter Praktiken der Kommunikation des Evangeliums, der Gemeindeleitung und der theologischen Reflexion (§ 4). Dann werden Verhältnisse von Religion und Recht sowie Kirche und Staat (§ 5) umrissen sowie von Kirche und Politik – exemplarisch an einigen Denkschriften der EKD (§ 6). Die »Grundzüge des katholischen Kirchenverständnisses« werden vor allem nach »Lumen Gentium« skizziert (§ 7, vgl. schon 40.79 f.88 ff.) – insgesamt zeigt sich ein ausgeprägtes Interesse an der großen Schwesterkirche.

Der III. Teil beginnt mit einer Rekonstruktion des sonntäglichen »Gottesdienst[es] als Darstellung der Kirche« oder als »per-formative[r] Kirchturm«, der sowohl die sichtbare Kirche – ihre Traditionen und Intentionen – in Szene setzt als auch die unsichtbare Kirche, in der das Wort Christi zu hören ist (§ 8). Die liturgische Zentrierung dieser Kirchentheorie zeigt sich ebenso in § 9: »Kirchenmitgliedschaft und Lebensgeschichte« werden anhand der vier Kasualien vermittelt, in denen jeweils »unverlierbare Zugehörigkeit zu Gott« und diverse soziale Bindungen zur Darstellung kommen.

Die kirchlichen Berufe (§ 10) werden im Spannungsfeld von »Religion, Geld und Beruf« verortet; dabei stehen Pfarramt sowie das sozialpädagogisch-diakonische Amt im Mittelpunkt, während die Akteure der »religiöse[n] Bildung in Schule und Kindergarten« sowie der Verwaltung auf je einer Seite abgehandelt werden. Die verfasste, dezidiert hierarchische »Amtskirche« (§ 11) wird als »Ausweis kirchlicher Freiheit sowie individueller Freiheit in der Kirche und gegenüber der Kirche« begriffen, denn sie bietet Erwartungssicherheit, definierte Handlungsspielräume und Transparenz (234).

Ungewöhnlich und hoch aktuell ist ein Kapitel zu »Macht und Sexualität in der Kirche« (§ 12), das den systemischen Zusammenhang von personalem Vertrauen und religiöser wie pädagogischer Macht skizziert, die kirchlichen Traditionen und aktuellen Sichtweisen von Sexualität nachzeichnet und das katholische Zölibat »mindestens mitverantwortlich« erklärt für den Ausschluss von Frauen vom Weiheamt und eine große Versuchung zu sexuellem Missbrauch und Vertuschung (265). Aus evangelischer Sicht sei zu fragen: »Wie lange hält die römisch-katholische Kirche in Deutschland […] ihre leider nur zu berechtigte grundsätzliche Infragestellung noch aus?« (267)

Die letzten drei Paragraphen fokussieren kulturelle Phänomene. Es geht um den Kirchenraum, besonders um Kanzel, Altar und Taufstein (§ 13), um bildende Kunst und Kirche in historisch unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen (§ 14) und schließlich um die Kirchenmusik (§ 15), mit einem Schwerpunkt auf dem Evangelischen Gesangbuch, das – im Unterschied zu vielen biblischen Texten – »unmittelbare Glaubenszeugnisse« biete und insofern großenteils »lehr- und predigtfrei« sei (311 f.).

Der Überblick lässt die große Vielfalt von Themen, Aspekten und Theoriefiguren erkennen, die der Vf. stets historisch differenziert, argumentativ abgewogen und mit Lust an prägnanten Formulierungen vorstellt. Hier zeigt sich – auch in sprechenden Beispielen, präzisen Literaturverweisen und regelmäßigen Zusammenfassungen – ein eminent didaktischer Gestus. Positionell bewegt der Vf. sich meist im mainstream der gegenwärtigen Kirchentheorie, etwa was den Rekurs auf die Soziologie funktionaler Differenzierung, auf die »hybride« Dimensionalität der Kirche oder die Begrifflichkeit der »Kommunikation des Evangeliums« betrifft (93 ff. u. ö.). Relativ häufig beruft sich der Vf. auf biblische, meist paulinische Sätze, aber oft auch auf Theoreme Luthers und Schleiermachers; die reformierte Tradition allerdings bleibt unbetont.

Eigene Akzente setzt der Vf. mit einer dichten zeichen- und kulturtheoretischen Fundierung der kirchlichen Kommunikation, die – analog zur Sprache – objektive Vorgaben und subjektive Aneignung, »Wort und Antwort« vermittelt (vgl. 86 ff.). Die Kirche fungiert wesentlich als Darstellung und »Inszenierung«; gottesdienstliche Praxis und kulturelle Ausdrucksformen rücken daher ganz in den Vordergrund

Das Profil des Buches wird im Vergleich mit zwei anderen kybernetischen Entwürfen noch deutlicher. An Reiner Preuls »Kirchentheorie« (1997), die nicht erwähnt wird, erinnert gleichwohl – neben der Unterscheidung von Institution und Organisation oder der Abgrenzung zur dogmatischen Ekklesiologie – die Frage nach der sozialen Bedeutung der Kirche als Ganzer: Schon Preul nennt Amtshandlungen, die kirchlichen Beiträge zur Kultur sowie das Verhältnis zur Politik. Umso mehr fällt auf, dass der Vf. – anders als Preul – die Kirche als »Bildungsinstitution« nicht thematisiert. Und die Leitungsfragen, die Preul (§ 3) als »Problem der Entscheidung« und der »Selbststeuerung« adressiert, werden hier zwar differenziert, aber doch ganz gelassen bedacht: »Es ist also auch gar nicht so schwer die Kirche zu regieren, wenn man nur nicht zuviel regieren will« (99, zit. wird Schleiermacher).

Ausdrücklich macht der Vf. die Nähe zum Lehrbuch »Kirche« von Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong (2013), etwa bzgl. des dreifach hybriden Charakters der Kirche. Freilich interessiert sich der Vf. wenig für »nichtparochiale Formen« wie überhaupt für spezifische Relevanzen der Kirche in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Vielmehr gilt schlicht: »Die Zukunft der Kirche wird sich daran entscheiden, ob es ihr gelingt, der Lebenskraft und Schönheit der Botschaft Jesu zu entsprechen und diese zum Leuchten zu bringen.« (325)

Das Bild der Kirche, das in diesem Buch gezeichnet wird, mutet insofern recht »klassisch« an. Es ist die einigermaßen stabil verfasste Volkskirche, mit Pfarrern, Diakonen und Kirchengebäude vor Ort, mit kultureller und kommunaler Wirkung, die fein gezeichnet und mit elementaren Glaubenssätzen vermittelt wird. Dass die evangelische (und die katholische) Kirche in Deutschland derzeit am ehesten als diakonische Organisation und als zivilgesellschaftliche Akteurin geschätzt wird, kommt nur am Rande in den Blick.

So erhalten auch die ehrenamtlich Engagierten, die Hauschildt/Pohl-Patalong ausführlich bedenken, in dieser Kirchentheorie wenig Aufmerksamkeit. Etwas überspitzt könnte man sagen: Die Menschen, die nicht beruflich für die Kirche tätig sind, kommen eher als kulturell und religiös Interessierte, auch als Hörende, Mit-Singende und -Betende in den Blick, weniger jedoch als selbständige Akteure oder Akteurinnen mit ganz eigenen Absichten. Oder im musikalischen Paradigma, mit dem das Buch schließt: Natürlich weiß der Vf., dass in der Kirche auch selbstbewusst mit Jazz improvisiert wird, dass popkulturelle sowie evangelikale »Worship«-Musik sich immer mehr verbreiten (vgl. 313 f.). Aber am Ende steht hier ein Plädoyer für die Orgel, die in besonderer Weise »die Vielfalt, Vielstimmigkeit und das Zeitübergreifende der kirchlichen Botschaft« repräsentiert, kurz: den »Klang der Transzendenz« (321 f.).

In Inhalt und Form bringt Meyer-Blanck eine evangelische Kirche zur Darstellung, die für die Kommunikation des Evangeliums vielfältige Klänge und elementare Texte, differenzierte Liturgien und einladende Räume bietet. Damit leistet er einen gewichtigen Beitrag zum »heutigen Gespräch über religiöse Fragen«.