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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

510-512

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hirsch-Hüffell, Thomas

Titel/Untertitel:

Die Zukunft des Gottesdienstes beginnt jetzt. Ein Handbuch für die Praxis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 300 S. m. 13 Abb. u. zusätzl. Downloadmaterial. Kart. EUR 35,00. ISBN 9783525620175.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Thomas Hirsch-Hüffell war von 1997 bis 2018 Leiter des Gottesdienstinstituts der Nordkirche und hat in dieser Funktion unzählige Praxisberatungen durchgeführt und Fortbildungen geleitet. Mit diesem außergewöhnlichen Buch legt er die Summe seiner feinsinnigen Beobachtungen und ungewöhnlichen Praxisanregungen vor. Hier ist ein liturgiebegeisterter Pastor am Werk, der sich in keiner Weise scheut, Missstände und die Gewöhnung an das Schlechte aufzuspießen. Weder wird über die landläufige Praxis lamentiert, noch wird diese schöngeredet – manchmal ist die Liturgie tatsächlich »Frondienst« (45). Fast immer sind die liturgischen Beobachtungen von H.-H. präzise, teilweise schmerzhaft und stets konstruktiv. Sein Motto: »Im Vorfindlichen mitmischen, weder als Rebell noch als Büttel. In dem was ist, Glanz erspielen.« (297)

Das Buch ist zugleich innovativ und konservativ, indem es den Potenzialen des Ritus nachgeht: »Viele haben nach 1968 die Patina des Klerikalismus abgebürstet. Nun sind wir frei, die alten Formen der Ehrfurcht (gern auch mit Augenzwinkern) wieder aus- und anzupacken.« (286) Insgesamt gilt die Maxime, wie sie im Hinblick auf die Feier der Beichte formuliert wird: »Die natürliche und gelöste Form, die warm zelebriert wird, wäre ein Ideal.« (245) Wenn Formelemente und Riten verwendet werden, dann muss das H.-H. zufolge offensiv und mit innerer Überzeugung geschehen und nicht mit verstecktem schlechten Gewissen. Diesem Urteil kann man nur in jeder Weise zustimmen.

Wie der Untertitel angibt, handelt es sich bei dem Buch um ein Praxishandbuch und um keine theoretische Abhandlung. Das hat den Vorteil, dass man es auch gut kapitelweise heranziehen kann, etwa an einem Kirchenvorstandswochenende zum Thema »Liturgie verstehen« (131–151), »Lesen im Gottesdienst« (163–170) oder »Abendmahl« (193–212). Die verschiedenen liturgischen Themen werden in vier Kapiteln behandelt: A »Gottesdienst allgemein« (16–128, hier geht es u. a. ausführlich um den Raum, 63–103); B »Gottesdienst im Detail« (131–235); C »Kasualgottesdienst« (238–264); D »Arbeit an der Zukunft des Gottesdienstes« (268–290); ein Anhang E enthält u. a. den Überblick zu dem beigegebenen und im Netz offen zugänglichen Download-Material.

Die einzelnen Ideen, Impulse und Praxisvorschläge lassen sich in dieser Besprechung nicht wiedergeben, so dass stattdessen eine fünffache Charakterisierung versucht sei. Es handelt sich erstens nicht nur um ein Arbeitsbuch, sondern auch um ein Lese- und sogar um ein Andachtsbuch. Nimmt man sich die Zeit, regelmäßig einen kürzeren Abschnitt zu lesen, kann man sich nicht nur in die Praxis, sondern auch in den Geist der Liturgie vertiefen. Zweitens enthält das Buch, dessen Ursprung in Impulspapieren für die Fortbildung deutlich zu erkennen ist, an vielen Stellen Materialien, die man direkt in einem Gottesdienstkreis oder Pfarrkonvent einsetzen kann. Hervorragend ist etwa die detaillierte Liste mit Beispielen für »Ausgetretene Sprachpfade« (144 f.), die dazu helfen kann, Klischees in der eigenen Sprache aufzuspüren. Drittens deckt H.-H. neben der unbewusst konventionalisierten Sprache auch andere eingeschliffene liturgische Muster auf, mit denen an die Stelle berührender Feierelemente der ungebremste Wort- und Informationsfluss tritt: »Erklärungen verderben ein Ritual […]. Entweder ein Ritual leuchtet von selbst ein oder es stimmt nicht.« (124 f.) Auch der gegenwärtige Zwang zur Authentizität wird in konstruktiver Weise als Irrweg aufgewiesen: »Niemand möchte die Privatheit des*der öffentlich Betenden kennenlernen. Aber man mag auch keine Sprechmaschine.« (216) Nötig ist darum eine Art »Wärmstrom der eigenen mitlaufenden Gebete« (ebd., dort kursiv). Entsprechend plädiert H.-H. viertens neben der Sorgfalt im Umgang mit dem Ritual für eine mutige Kreativität, für das liturgische Experiment und Wagnis. Der Kirchenbegriff darf sich nicht weiter ausschließlich auf die traditionelle Gemeinde und ihre Frömmigkeitsformen stützen: »Kirche geschieht längst und oft spannender überregional, informell […]. Es gibt Institute jenseits von Gemeinde, es gibt aufregenden, halbgeistlichen Wildwuchs – z. B. rund um Bürgerinitiativen, Hauskirchen, Kunstprojekte, Kirchentage und in der Flüchtlingsarbeit. […] Hier sind eigene Sprach- und Verstehensmodelle angesagt.« (189) Schließlich gibt es in diesem Arbeitsbuch fünftens Passagen und Formulierungen von besonderer spiritueller Dichte. Das betrifft etwa den Vorschlag, die Pastores einer Region sollten eine Zeitlang zusammen den Sonntagsgottesdienst feiern und dazu breit öffentlich einladen, aber die einzelnen Gottesdienste an diesen Sonntagen ausfallen lassen, so dass man in der Region zu dem einen Gottesdienst der Geistlichen fahren muss (274–279): »Kurz: Öffentliche Retraite des geistlichen Personals hinterfragt Routinen und ermittelt neue Feierformen.« (276, dort kursiv) Die Pastores »feiern einfach, was sie lieben« (277). Ob das tatsächlich praktikabel ist, stehe dahin; wichtig an diesem Vorschlag ist aber der Impuls, das eigene Verhältnis zum Gottesdienst in den Mittelpunkt von Reformbemühungen zu stellen.

Das dürfte zugleich der wichtigste Grundsatz für die Zukunft des Gottesdienstes sein: Es überzeugt nur das, was die, die überzeugen wollen, selbst überzeugt. Das gesamte Buch durchzieht die These, dass die Besucher – so liturgiefremd sie auch sein mögen – erspüren, was die leitenden Liturgen selbst für wichtig halten und lieben. Dem kann und will sich niemand entziehen. Es kommt damit ein starkes subjektives Moment in den Gottesdienst; die Gefahr, dass darum viele Verantwortliche versuchen, »den Niedergang der Kirche persönlich mit ihrer Originalität oder ihrem Fleiß aufzuhalten« und dabei »in der Reha« landen, sieht H.-H. sehr wohl (29). Aber in einer Zeit gesteigerter Subjektivität gibt es keine Alternative dazu, zu zeigen, wie einen die überlieferten Riten selbst berühren und wie sie zu Medien werden können, etwas von Gott wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Auf jeden Fall hat die evangelische Kirche »seit den 1980er-Jahren […] gemerkt, dass Hartholzbänke und Wortkaskaden allein den Menschen nicht mehr froh machen« (11). Diese Sätze zeigen, wie zupackend H.-H. die Probleme auf den Punkt bringt. Gut protestantisch führt das Buch insgesamt vor Augen, dass Gottesdienstreform Kirchenreform ist und umgekehrt (189).

H.-H. benutzt keine theoretisierende, sondern eine poetisch verfremdende und verdichtende Sprache. Er sei es, heißt es im Nachwort, »ein bisschen leid«, das Abgestandene und Misslingende zu ertragen, »die Sprache, die oft steifen Gesten, diese Zitate der Erlösung anstelle von Gelächter« (297). Oder noch einmal positiv: »Wir sind in Summe zu meditativ und zu brav in unserer Kirche. Seien Sie doch bitte frecher und lauter.« (125)