Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

504-506

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

Theologische Exegese. Bibelhermeneutische Studien in systematischer Absicht.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 340 S. Kart. EUR 45,00. ISBN 9783374071753.

Rezensent:

Birke Siggelkow-Berner

Der Aufsatzband vereint Beiträge von Ulrich H. J. Körtner, die überwiegend in der Zeit zwischen 2011 und 2022 entstanden sind, bereits an anderer Stelle publiziert wurden und für die Neuveröffentlichung geringfügige Überarbeitung und teilweise auch Ergänzung erfahren haben. Daneben sind ein älterer, erweiterter Artikel sowie ein bisher unveröffentlichter Beitrag enthalten.

Erklärtes Anliegen der so versammelten Studien ist es, einem Auseinanderdriften von Systematischer Theologie und Bibelexegese entgegenzuwirken, insofern sie sich »einem Verständnis von Bibelexegese als theologischer Aufgabe mit systematisch-theologischen Implikationen und Fragestellungen wie auch von Systematischer Theologie als konsequenter Exegese verpflichtet« wissen (7). In Verbundenheit mit P.-G. Klumbies muss aus K.s Sicht in beiden theologischen Disziplinen grundlegend sein, sich nicht auf eine beschreibende Außenperspektive zu beschränken, sondern das hinter den Texten liegende »Glaubensgeschehen« in den Blick zu nehmen und die »Rede von Gott« (und nicht nur von Gottesgedanken und -begriffen) in den Mittelpunkt zu stellen (8).

In den ersten beiden Kapiteln wird diese Herangehensweise grundsätzlich beleuchtet: K. wendet sich hier gegen eine aus seiner Sicht zu einseitige Ablehnung der Wort-Gottes-Theologie und einer hermeneutischen Theologie im Sinne R. Bultmanns in allen theologischen Disziplinen. In kritischer Auseinandersetzung mit posthermeneutischer Theologie (W. Nethöfel, M. Döbert, K. Neumann) hält er – nicht zuletzt aus Verpflichtung gegenüber paulinischer und reformatorischer Rechtfertigungslehre – daran fest, dass »Verstehen als Widerfahrnis und Passivitätserfahrung«, dass »Erkennen als Erkanntwerden« zu begreifen sei (37). Zwischen Dogmatik und Exegese bestehe dabei ein »hermeneutischer Zirkel« (40), insofern mit H.-G. Gadamer davon auszugehen sei, dass solches Verstehen nur demjenigen möglich ist, der sich von den biblischen Texten »angesprochen und betroffen weiß, sei es nun als Glaubender oder als Zweifelnder« (ebd.). Im Anschluss an Klumbies’ Konzept einer »theologischen Exegese« ist dieser hermeneutische Zirkel für K. dezidiert offenbarungstheologisch bestimmt: Das Glaubensgeschehen, auf das die Texte verweisen, steht in Analogie zur Situation der gegenwärtigen Auslegung, insofern sich in beiden Gott selbst zur Sprache bringt. K. zufolge lassen sich somit Systematische Theologie als »theologische Exegese im Vollzug«, historische und systematische Theologie »als gemeinsamer hermeneutischer Prozess« beschreiben (49), der pneumatologisch gefüllt (51 f.) und hamartiologisch begründet (52–54) wird. Einer so bestimmten Hermeneutik misst K. überdies nicht nur theologische Sachgemäßheit, sondern auch wissenschafts- und religionspolitische Notwendigkeit bei, insofern er bei einer Beschränkung theologischer Wissenschaft auf anschlussfähige kulturwissenschaftliche und religionstheologische Fragestellungen die Plausibilität ihrer Existenzberechtigung an öffentlichen Universitäten in Gefahr (41 f.) und die »Marginalisierung christlichen Glaubens« (45) befördert sieht.

In den sieben folgenden Aufsätzen findet dieses Programm thematische Anwendung. Ganz überwiegend in leitendem Rekurs auf paulinische Theologie werden das Verhältnis zwischen Vergebung und Gerechtigkeit (55–79), göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung (81–96) sowie Rechtfertigung und Ethik (97–119) bedacht, Begriff und Thematik der »Liebe« verhandelt (121–156), das Phänomen des innerchristlichen Pluralismus beleuchtet (157–179) sowie anthropologische Fragen angesichts bioethischer Diskurse der Gegenwart betrachtet (181–204). Die Gedankenbewegung dieser Beiträge folgt dem zuvor beschriebenen hermeneutischen Ansatz. Ausgangspunkt ist jeweils ein klar benanntes leitendes sachliches Interesse, das an die biblischen Texte herangetragen und in dem Licht, das durch das Herausarbeiten der eigenen Stimme dieser Texte auf den Sachverhalt fällt, betrachtet sowie jeweils im Blick auf konkrete lebensweltliche Zusammenhänge ausgewertet wird.

Vier weitere Beiträge widmen sich daraufhin einer vertiefenden Positionsbestimmung im Forschungsdiskurs, insbesondere in Aufgriff von und Auseinandersetzung mit R. Bultmanns Hermeneutik. So modifiziert K. den Gedanken des »Vorverständnisses«, das nach Bultmann die Begegnung mit dem zu verstehenden Text bestimmt, hin zu einer »Hermeneutik des Unverständnisses« (227), insofern erst das glaubende Verstehen ein die »Sünde im Verstehen« überwindendes »Verstehen des Verstehens ist, in dem das vorgläubige Verstehen als überwundenes präsent bleibt, jedoch einer radikal kritischen Bewertung unterzogen und neu orientiert wird« (ebd.). Die Deutung der johanneischen Eschatologie durch Bultmann wird dagegen weitgehend in positiver Würdigung aufgegriffen, insbesondere indem der von Bultmann durch literarkritische Operationen weitgehend als sekundär eingestuften futurischen Eschatologie zwar demgegenüber ein eigener Stellenwert im Evangelium beigemessen werden müsse, sie aber durchaus auch in Bultmanns Theologie bereits ihr Recht hätte, insofern Johannes »das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft des Heils neu bestimmt« und auch Bultmann die »Endlichkeit der gegenwärtigen Heilserfahrung« festhalte (255). Die Auseinandersetzung zwischen R. Bultmann und P. Tillich um Recht und Bedeutung einer »Entmythologisierung« biblischer Aussagen schließlich versucht K. durch Rekurs auf die Metapherntheorien P. Ricœurs und H. Blumenbergs sowie die narrative Theologie G. Schneider-Flumes zu überwinden: »Absolute Metaphern« behielten ihr Recht, insofern sie zwischen Anthropomorphismus und Deismus, zwischen Mythos und Metaphysik zur Sprache brächten, »als was Gott ist« (289). Nachdem in einem weiteren Beitrag die »Theologische Exegese« K.s in positiven Bezug zum Werk D. Lührmanns gebracht worden ist, beschließt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der »Selbstbefreiung« den Band, das in Verbindung von paulinischer und lutherischer Anthropologie mit der »narrativen Identität« P. Ricœurs zu dem Gedanken der »Selbstvergessenheit« (335) des von der Sorge um das Selbst befreiten Ichs modifiziert wird und damit noch einmal programmatisch den Weg von exegetischen Einsichten hin zu grundlegenden theologischen Aussagen aufzeigt.

Die Studien K.s erinnern damit nachdrücklich und zu Recht an die Notwendigkeit der Inbezugsetzung exegetischer und systematisch-theologischer Fragen und Erkenntnisse und ergänzen damit die früheren hermeneutischen Arbeiten des Verfassers (Der inspirierte Leser, 1994; Einführung in die theologische Hermeneutik, 2006; Hermeneutische Theologie, 2008). Seine »Hermeneutik des Unverständnisses« bezieht eine gewichtige Position im Diskurs um die Frage, wie es zwischen Text und Lesenden zu Begegnung und Verstehen kommt, die innertheologisch diskutiert worden ist und weiter diskutiert werden muss. Die Studien stellen darüber hinaus ein klares Plädoyer dafür dar, dass und wie ein Weg vom Text zu gegenwärtiger Theologie gegangen werden kann. Sie zeigen aber auch noch einmal die Problemfelder auf, die sich dabei ergeben. Zum einen: Wie soll gerade mit der theologischen Vielfalt der Texte und Konzepte der Bibel umgegangen werden, die eben nicht nur paulinische Anthropologie und johanneische Eschatologie beinhaltet und der gegenüber K. etwa in Bezug auf die Vergebungsbitte des matthäischen Vaterunsers unter den Druck der Harmonisierung mit paulinischen Aussagen zu geraten scheint (81–96)? Zum anderen: Wie kann es gelingen, auch die neuere und neueste fachwissenschaftliche Diskussion zwischen den theologischen Disziplinen zu kommunizieren, die K. in seiner Paulus- und Johannesexegese nur sehr bedingt aufgreift, so dass er insbesondere die Schriften in ihrer Funktion als jeweils spezifische Kommunikation zwischen (implizitem) Autor und intendierten Adressaten nur sehr am Rande wahrnimmt? K.s Verdienst ist es, diesen Problemen zum Trotz ein Gespräch neu eröffnet zu haben, das dringend fortzuführen sein wird.