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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

483-485

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Austad, Torleiv

Titel/Untertitel:

Livet har opna seg! Ein prestelärar ser tilbake.

Verlag:

Follese: Efrem 2020. 360 S. m. zahlr. s/w Abb. Geb. NKR 369,00. ISBN 9788292922569.

Rezensent:

Jobst Reller

Torleiv Austad, bis 2007 Professor für Systematische Theologie an der theologischen Gemeindefakultät in Oslo, legt hier seine Lebenserinnerungen vor: »Das Leben öffnete sich! Ein Pfarrerlehrer blickt zurück«. In Deutschland ist A. u. a. durch seine 1974 erschienene Dissertation über den norwegischen Kirchenkampf »Der Grund der Kirche. Analyse eines kirchlichen Bekenntnisses aus der Besatzungszeit 1940−1945« (norw. 176 ff.224.306 ff.), als Mitherausgeber der Zeitschrift »Kirchliche Zeitgeschichte« und durch seine Mitarbeit in ökumenischen Gremien (Lutherakademie Sondershausen-Ratzeburg und Baltische Theologentagung) bekannt geworden. Für einen Universitätsprofessor eher ungewöhnlich verbindet A. den persönlichen Lebensrückblick auf Kindheit, Studium und Familienleben (17−173) mit dem auf das fachtheologische und kirchliche Engagement (175−360). Für ihn ist beides untrennbar verbunden und aufeinander bezogen. Bescheiden nennt er sich »Pfarrerlehrer«, erwähnt wiederholt, dass er eigentlich Pfarrer auf dem Lande werden wollte, und spricht von der Funktion der Systematischen Theologie für die kirchliche und gemeindliche Praxis. Analog zur orthodoxen Theologie entspringt ihm zufolge die Systematische Theologie aus Gebet und Lobpreis, wie es etwa in der Choraldichtung zum Ausdruck kommt (151 f.193 f.308 f. u. ö.). Auf dieser Basis ist Theologie dann offen für Auseinandersetzung (295.307.328.353 u. ö.) vernünftig unter der Voraussetzung der Offenbarung Gottes in der Geschichte im Zeugnis der Heiligen Schrift zu entfalten. »Mein Ideal war es, den Glauben lebendig zu machen im Licht der Geschichte und der Gegenwart und im Blick auf die Zukunft.« (193)

Zurückhaltend nimmt A. nicht die Erkenntnis von Gottes Wirken unmittelbar für sein Leben in Anspruch, aber hält fest, dass das im Vertrauen auf Gott im Gebet versuchte Leben sich öffnete zu immer neuen Chancen und Herausforderungen. Der Begriff des Lebens ist wie die Klammer, die persönliches, gesellschaftliches und akademisches Engagement zusammenhält. Nebenbei erfährt der Leser, dass A. in seiner Jugend an Skisprungwettbewerben teilnahm, später Marathon lief; die Mitwirkung in einer Ethikkommission des nationalen Sportbundes zur Fortbildung von ehrenamtlich Leitenden in lokalen Sportvereinen oder auch zur Dopingproblematik (326 f.) überrascht nicht – ebenso wenig wie die in Kommissionen zur Medizin- und Biotechnologie (334−341). Der Wehrdienst war nach der Erfahrung der deutschen Besetzung inklusive Offizierslehrgang und Dienst als Militärseelsorger in der königlichen Garde selbstverständlich (258 ff.), die ethische Reflexion als kirchlicher, auf den Soldaten als Menschen bezogener Dienst in Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht genauso. Militärseelsorge liefert eben keine zum Kampf ertüchtigende »Verteidigungsideologie«. Eine logische Konsequenz war das Engagement als Verteidiger für Kriegsdienstverweigerer, Friedensethik und atomare Abrüstung (330−333).

A.s Ethik nimmt in allen Äußerungen zu den verschiedenen Feldern ihren Ausgangspunkt beim Willen des Schöpfers (180.317 f.325.341.345.347 u. ö.), konkretisiert sich an Punkten wie der Menschenwürde und den Menschenrechten – z. B. dem der Gewissensfreiheit (339). Die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung bleibt insofern unabhängig von den staatlichen rechtlichen Regelungen von medizinischen bis hin zu sozialen Indikationen immer eine Dilemmasituation, in der es zwischen dem Schutz der Menschenwürde des Embryos und der der Mutter abzuwägen gilt (334 f.). Bezeichnend ist eine Äußerung des Direktors des Gesundheitswesens in Norwegen Torbjörn Mork 1980, der angesichts der Berufung von A. in die Kommission zunächst »den Gestank des Mittelalters« befürchtete, aber nach einem Jahr gemeinsamer Arbeit ausdrücklich die sachdienliche Gesprächsebene konstatiert (338).

Hauptaufgabe A.s waren Vorlesungen über Dogmatik an der Gemeindefakultät von 1969 an. Einer seiner Förderer war der damalige Professor für Dogmatik Leiv Aalen († 1983; 90.96.108.115.123 f.132. 176 f.183−190.218.233 ff.242.279.318). Er vertrat ein klares lutherisch- orthodoxes Profil (wie etwa Hermann Sasse) und wurde in Deutschland bekannt durch seine kritische Dissertation zu Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. A. entwickelt – bei aller Betonung der Heiligen Schrift als höchste Autorität – seine eigene ökumenisch offene Position (133 f.188.193.219.221.231.236.244.257.278.307.321), die sich in der Mitarbeit in der anglikanisch-skandinavischen Theologenkonferenz (283 f.), in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des ÖRK (285 ff.), in der »Fellowship of European Evangelical Theologians« und im römisch-katholisch/skandinavisch-lutherischen Dialog auswirkt (290 ff.). Ein Bruch der Abendmahls- und Gottesdienstgemeinschaft um einer konfessionellen Tradition willen ist ihm undenkbar. Akademischer Unterricht in Dogmatik ist für A. eher das Ausloten der Grenzen und der Fixpunkte eines weiten, verbindenden Raums auch unterschiedlicher Auffassungen. Die Bezugspunkte für dieses sachliche Gespräch in Frage, Antwort und Auseinandersetzung im Vertrauen auf Gott im Leben und in der Auslegung der Heiligen Schrift sind gegeben. M. E. ist es kaum zufällig, dass A. keine durchgeführte Darstellung der Dogmatik, sondern nach Ende seiner Lehrtätigkeit 2008 eine Methodenlehre zur Systematischen Theologie herausgegeben hat: »Die Deutung des christlichen Glaubens. Methodische Fragen in der systematischen Theologie« (norweg. 195 f.).

Die besondere Entwicklung der Erweckungsbewegung des 19. Jh. in Norwegen (nach Hans Nielsen Hauge † 1824) führte zu einem kirchlichen Leben nach dem Modell einer Elipse: hier die Pfarrer der norwegischen Staatskirche mit ihren staatlichen Verwaltungsaufgaben, sonntäglichen Gottesdiensten, Krankenabendmahl, Konfirmandenunterricht und Kasualien um das althergebrachte Kirchengebäude, dort die freiwilligen Organisationen der inneren und äußeren Mission mit allen Formen von christlicher Gemeinschaft für alle Lebensalter im Bethaus (171 ff.). Oberflächlich betrachtet kam und kommt in alltäglicher Umgangssprache die norwegische Kirche in erster Linie als »Staatskirche« – durchaus auch mit verächtlichem Unterton – zu stehen. Anliegen A.s und seiner Generation war ein kirchlicher Reformprozess, der die norwegische Kirche als Glaubensgemeinschaft stärkt; sie sollte eine »bekennende, missionierende, dienende und offene Volkskirche« sein (269). A. arbeitete an diesem Reformprozess von 1965 an in verschiedenen Funktionen mit (265). 1984 wurde die Einrichtung einer Synode mit Teilgesetzgebungskompetenz beschlossen (268). Dieser Prozess kam 2017 mit der Trennung von Staat und Kirche zum Ziel.

Nach Debatten um die Ordination von Frauen (189.191.211.233) und die Abtreibung wurde vor allem die grundsätzliche Wertung der Homosexualität zu einer die Einheit der Kirche schwer belastenden Frage (120.251.269.342−347). Eine Diffamierung oder Diskriminierung gleichgeschlechtlich orientierter Menschen wurde mit Verweis auf die gleiche Menschenwürde als Geschöpf Gottes einmütig verurteilt (349).

A. versuchte im Rahmen seines ekklesiologischen Grundansatzes als Vorsitzender des kirchlichen Ausschusses für Lehrfragen seit 1998 (342 ff.) eine Klärung herbeizuführen. Als Propst Asle Dingstad die Zustimmung von Bischof Sigurd Osberg in Tunsberg zum Zusammenleben Homosexueller 1998 alsstatus confessionis ansah und jede weitere Aufsicht durch den Bischof oder die Gottesdienstgemeinschaft ablehnte, stellte der Ausschuss schließlich fest, dass unterschiedliche Ansichten zu dieser Frage keinen kirchentrennenden Charakter haben dürfen. Asle Dingstad hatte da allerdings die norwegische Kirche verlassen (343 ff.). 1997 beurlaubte Bischof Rosemarie Köhn in Hamar Kaplan Siri Sunde, als diese eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft einging. Die Synode hatte die Sicht bekräftigt, dass ein Dienst in der norwegischen Kirche und das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft sich ausschlössen (345). 2002−2006 beschäftigte sich der Ausschuss erneut mit dieser Frage im Hinblick auf das Verständnis und den Gebrauch der Heiligen Schrift und die Menschenwürde. Schließlich teilte sich der Ausschuss in zwei gleichstarke Lager von Befürwortern und Gegnern gleichgeschlechtlichen Zusammenlebens. Entscheidend war das Bibelverständnis. A. schließt für seinen Teil: »Im Blick auf gleichgeschlechtliches Zusammenleben muss man fragen, ob ausreichende Argumente dafür vorliegen, von einem einheitlichen Zeugnis in der Bibel abzusehen, dass homosexuelle Handlungen mit Gottes Schöpferwillen brechen.« (369) Die gesellschaftliche Entwicklung führte zu einem geschlechtsneutralen Ehegesetz 2009 und entsprechend einer erweiterten kirchlichen Trauordnung 2013 (351). Die Synode entschloss sich, den Ausschuss für Lehrfragen mit der Unabhängigkeit der norwegischen Kirche 2016/2017 auslaufen zu lassen.

A. lehnt es für sich ab, die Gemeinschaft mit der norwegischen Kirche aufzulösen. Die theologischen Sachfragen bleiben ungeklärt. Schwerer wiegt aber wohl in seiner Sicht, dass sie an keiner Stelle weiter repräsentiert und diskutiert werden – auch wenn das Aushalten dieser Meinungsverschiedenheit und Spannung für alle Beteiligten eine Herausforderung ist. Das könnte dazu führen, dass ein Misstrauen gegenüber einer vermeintlichen »korrekten« offiziellen Theologie entsteht und Gemeindeglieder und dringend benötigte zukünftige Pfarrer sich nicht mehr gehört fühlen (255). – Wäre es nicht gut, bei der Frage nach dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes gerade im Rekurs auf Jesus von Nazareth stärker einzubeziehen, dass er eine Ordnung ermöglichen wollte, die für Menschen mit »harten Herzen« das Leben lebbar machte, auch wenn diese Ordnung mit Gottes ursprünglichem Schöpfungswillen brach? Was könnte das bedeuten für kirchliche Verlautbarungen zu ethischen Fragen? Faszinierend wäre auch, eine zweite Linie auszuführen, die Entwicklung »der theologischen Gemeindefakultät« (norweg. »Det teologiske Menighetsfakultet«). Das Programm einer in den Gemeinden verwurzelten und vielfältig rückgekoppelten Theologie ist zumindest nicht mehr sinnfällig (253 f.).

A. umgibt eingedenk des »tvisyn« seiner Heimatlandschaft Telemark, zu deutsch etwa der »Doppelansichtigkeit aller Dinge«, seine Lebenserinnerungen mit einer Klammer, der Erinnerung an das »Kyrie eleison« des Messgottesdienstes am Anfang (15) und dem Diktum des schwedischen Bischofs Martin Lönnebo, dass wahre Theologie erst im Himmel wartet, irdische aber mehr oder minder gute »Quacksalberei« (360) sei.

Für deutsche Leser besonders interessant sind auch die Begegnungen mit ostdeutscher theologischer Wirklichkeit.