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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

478-480

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Karant-Nunn, Susan C.

Titel/Untertitel:

Ritual, Gender, and Emotions. Essays on the Social and Cultural History of the Reformation. Ed. by Matthias Pohlig.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. X, 350 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation, 131. Lw. EUR 124,00. ISBN 9783161613296.

Rezensent:

Markus Wriedt

Susan C. Karant-Nunn gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Vertreterinnen der amerikanischen Geschichtsforschung. Früh legte sie sich mit ihrer magistralen Arbeit Luther’s Pastors: The Reformation in the Ernestine Countryside (1978) auf die sozialgeschichtlichen Fragestellungen innerhalb der frühneuzeitlichen Historiographie fest. Kaum zehn Jahre später erschien ihr zweites großes Buch Zwickau in Transition, 1500−1547: The Reformation as an Agent of Change (1987). Die für diese Untersuchungen erforderlichen Quellenstudien unternahm sie in den Archiven der damaligen DDR und erwarb sich so auch hohes Ansehen bei den Vertretern der ostdeutschen Reformationsgeschichte. Zunächst an der Universität von Portland tätig, übernahm sie 2001 die Nachfolge des einflussreichen niederländischen Reformationshistorikers Heiko A. Oberman in der University of Arizona in Tucson AZ. Es gelang ihr nicht nur, die dortige Devision for Late Medieval and Reformation Studies durch die Einwerbung von erheblichen Drittmitteln zu festigen, sondern darüber hinaus eine weitere Professur, die nun nach ihr benannt wurde, zu sichern. Bereits in den 90er Jahren erweiterte sie ihre Forschungen um kulturwissenschaftliche Fragestellungen (cultural turns) und trug zu deren methodischer Etablierung in den anglo-amerikanischen Forschungseinrichtungen, aber auch in Europa entscheidend bei. Das zeigt sich in zwei Werken: The Reformation of the Ritual: An Interpretation of Early Modern Germany (1997) und The Reformation of Feeling: Shaping the Reli- gious Emotions in Early Modern Germany (2010). Dazwischen erschienen in regelmäßiger Folge zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden auf beiden Seiten des Atlantiks. Zwischen 1998 und 2010 übernahm sie gemeinsam mit Anne Jacobson Schutte die nordamerikanische Herausgeberschaft des Archivs für Reformationsgeschichte. Die Vfn. empfing zahlreiche Auszeichnungen, Preise und Studienaufenthalte wie Gastprofessuren. 2009 wurde sie mit der höchsten Auszeichnung der Universität von Arizona als Regents Professor geehrt. In einer Festschrift mit dem Titel Cultural Shifts and Ritual Transformations in Reformation Europe, herausgegeben von Victoria Christman und Marjorie Elizabeth Plummer, wurde sie kurz vor Vollendung ihres siebten Lebensjahrzehnts von etlichen jüngeren Vertreterinnen und Vertretern der anglo-amerikanischen Reformationshistoriographie mit einigen Untersuchungen geehrt.

Der von dem Berliner Historiker Matthias Pohlig initiierte und herausgegebene Band enthält 18 allesamt bereits zwischen 1988 bis 2017 veröffentlichte Beiträge der amerikanischen Historikerin. Diese erschienen zum Teil in Sammelbänden und waren so nicht selten aus dem Blick der interessierten Forscherinnen und Forscher geraten. Eine konzise Publikationsliste fehlt bisher, allerdings hat Mary Wiesner Hanks in der oben erwähnten Festschrift einen Überblick über die zahlreichen Aufsätze und Beiträge der Jubilarin verfasst (Epilogue: A Festival of Festschriften, 356−370).Matthias Pohlig hat unter tatkräftiger Mitwirkung der Vfn. die Beiträge in vier thematischen Kapiteln zusammengestellt. Sie lassen gut erkennen, wie aus der sozialgeschichtlichen Forschung die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen herauswachsen, ohne freilich die alten Referenzen aufzugeben.

Der erste Abschnitt Social and Cultural History of the Reformation enthält sieben Beiträge, die sich mit der Wortverkündigung (preaching), religiöser Praxis in Verbindung mit Fragen der Popularkultur (popular culture) und den daraus sich entwickelnden Schwierigkeiten der Bestimmung konfessionell homogenen und damit eindeutigen Verhaltens, sowie dem Gemeindegesang in der Spätphase der Reformation beschäftigen. Der Aufsatz Patterns of Religious Practice: Nontheological Features lässt erkennen, dass die theologische Reformationsgeschichtsforschung zwar berücksichtigt, in ihrem Anliegen aber bewusst nicht weiter verfolgt wird. Darin spiegelt sich auch die anglo-amerikanische Wissenschaftskultur wider, welche die denominationelle Reformationshistoriographie zunehmend in die Divinity Schools oder die kirchlichen Seminare verdrängt und unter Berufung auf das First Amendment der amerikanischen Verfassung die damit verbundene positionelle Aussage sanktioniert.

Der zweite Abschnitt Ritual and Reformation nimmt die lange vernachlässigte Bedeutung symbolischer Interaktion im Medium des Rituals auf. Fünf Beiträge beleuchten die rituelle kirchliche Praxis zunächst in zwei eher allgemein informierenden Beiträgen, sodann aber in sehr konkreten Anwendungen auf die Kirchenzucht, die zunehmende Wahrnehmung des Körpers im religiösen Ritual und schließlich auch den Gender-Aspekt unter Beachtung der weiblichen Mitwirkung bei reformatorischen Ritualhandlungen.

Im dritten Abschnitt Gender Relations and the Reformation wird dieser letztgenannte Aspekt nun in vier Aufsätzen traktiert. Der Vfn. gelingt es eindrücklich, den durch die Reformation herbeigeführten Wandel im Rollen- und Selbstverständnis der Frau zu rekonstruieren. Normative und deskriptive Quellen stehen nebeneinander und lassen erkennen, dass hier noch manches Quellenmaterial zu berücksichtigen und im Licht dieser Fragestellung zu untersuchen wäre. Das dokumentiert über die hier wiedergegebenen Aufsätze hinaus der gemeinsam mit Scott Hendrix herausgegebene Band Masculinity in the Reformation Era (2008).

Die für die neuere Geschichtswissenschaft höchst bedenkenswerte Perspektive der Emotionsforschung wird in zwei abschließenden Beiträgen im vierten Abschnitt Emotions aufgenommen. Die recht knappen Anmerkungen lassen gleichwohl erkennen, wieviel Potential in der Aufnahme dieser Fragestellungen für die frühneuzeitliche Geschichtsforschung, allerdings auch für andere historisch arbeitende Disziplinen steckt. Erlaubt doch die sensible Rekonstruktion der Gefühlswelten der Menschen im 16. und 17. Jh. eine über die bisherige Quelleninterpretation hinausgehende Wahrnehmung der Dynamiken der gesellschaftlichen Entwicklung und der sie bestimmenden kommunikativen Prozesse.

Die im Band versammelten Aufsätze sind in Ermangelung fehlender Vorlagen und Datensätze neu editiert und vereinheitlicht worden. Das erhöht die Lesbarkeit ungemein und erleichtert das Hin- und Herblättern im Buch. Zwei Abbildungen sowie das Verzeichnis der Erstveröffentlichungen und ein Namenregister runden die gelungene Ausstattung ab.

Auch wenn dieser Band zunächst für die Wissenschaftsgeschichte eine retrospektive Bedeutung haben mag, ist er für die gegenwärtige, gerade auch die theologische Reformationsgeschichtsforschung von vitalem Interesse. Die mit beiden Wissenschaftskulturen der USA und Europas bestens vertraute und aufgrund ihrer hohen Sprachkompetenz problemlos kommunikationsfähige Forscherin bietet zahllose anschlussfähige Beobachtungen, denen jüngere Forscherinnen und Forscher nachgehen sollten. Die Vfn. war und ist in idealer Weise als Vermittlerin zwischen den USA und Europa tätig. Es ist ihr und ihrer Aufsatzsammlung zu wünschen, dass die Entfernung über den Atlantischen Ozean hinweg nicht wieder wächst – unter anderem auch wegen mangelnder Sprachkompetenz bei jüngeren Wissenschaftsvertretern – und die innovative und inspirierende Forschungsarbeit der jetzt emeritierten Wissenschaftlerin weiterhin Wirkung zeigt. Die amerikanische Historikerin hat zu Zeiten, als einige dieser Fragestellungen zumindest im deutschsprachigen Kontext noch massiv belächelt wurden, ihre innovative Arbeit begonnen, fortgeführt und damit auch so manchen Standard gesetzt.

Matthias Pohlig ist für seine Initiative und deren sorgfältige Umsetzung hohe Anerkennung geschuldet.