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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

458-461

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Backhaus, Knut

Titel/Untertitel:

Das lukanische Doppelwerk. Zur literarischen Basis frühchristlicher Geschichtsdeutung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. XIV, 661 S. m. 1 Abb. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 240. Geb. EUR 113,95. ISBN 9783110602913.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Seit vielen Jahren bereichert Knut Backhaus die Diskussion zur lkn Theologie mit profunden und originellen Beiträgen. Diese Forschungen im Vorfeld seiner geplanten Kommentierung der Apostelgeschichte (EKK) haben in der vorliegenden Monographie eine Bündelung und Zuspitzung erfahren, bei der es um die eine, zentrale Frage geht: Wie finden eigentlich ein »Evangelium« und eine »Apostelgeschichte« als »Doppelwerk« zueinander? Einfache Antworten gibt es nicht. B. sortiert die zum Teil turbulenten Debatten mit ruhiger Hand und legt Irrwege sowie bleibende Erkenntnisse frei – nicht ohne zum Schluss auch ein eigenes, profiliertes Bild dieses »Doppelwerkes« zu entwerfen. Seine akribisch geführte Untersuchung gliedert sich in fünf Kapitel (A–E), die das Thema in verschiedenen Perspektiven aufnehmen: forschungs- und rezeptionsgeschichtlich, exegetisch, gattungskritisch und textpragmatisch; ein sechstes Kapitel (F) formuliert den Ertrag.

»A Grundlegung« nimmt Maß an dem vielzitierten Diktum Franz Overbecks, die Verbindung von Lk und Apg sei eine »Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen« gewesen. Damit erscheinen das Opus Lucanum, das lkn Corpus, Cluster, Konstrukt, der lkn Verbund oder Hybrid, das Doppelwerk, Luke-Acts, Ad Theophilum I/II, erster und zweiter Logos, die beiden lkn Monographien, die Achse Lk/Apg (oder wie auch immer) in eindrücklicher Klarheit zunächst als Problem. Wie selbstverständlich ist die Einheit beider Schriften, wie zwingend ihre jeweilige Eigenständigkeit? Wie tragfähig ist der Rückverweis in Apg 1,1–2 auf den »ersten Logos«, wie provozierend die formale Differenz beider Textsorten? Wie sind Entstehungs- und Rezeptionsebene aufeinander zu beziehen oder auseinanderzuhalten? Wie sind die drei »Schnittstellen« (Eingang Lk, Übergang Lk/Apg, Ende Apg) zu beurteilen? Um diese und weitere Fragen hat die Forschung gut 250 Jahre lang gerungen, ohne ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen. Die »unity of Luke-Acts« steht gegenwärtig wieder auf dem Prüfstand.

»B Problemgeschichte« geht allen Irrungen und Wirrungen dieser Debatte mit großer Sorgfalt und Detailgenauigkeit nach. Man lernt dabei das lkn Doppelwerk zunächst als ein »Forschungskonstrukt« kennen, ausgehend von den kanontechnischen Überlegungen eines Erasmus über die Positionierungen im 18. und 19. Jh. auf protestantisch-liberaler wie auch katholischer Seite bis hin zur Begriffsgeschichte der Termini »Doppelwerk« und »Luke-Acts«. Die größte Leidenschaft verwendet der Autor dabei auf das Overbeck-Kapitel, in dem die Problematik gleichsam in ihrer »klassischen« Gestalt zutage tritt. Weiterhin begegnet man dem lkn Doppelwerk als einem »Standardmodell«, das im 20. Jh. die Forschung dominiert, bevor es wieder in die Krise gerät. Schließlich verlässt man diesen Teil mit dem ernüchterten Blick auf Luke-Acts als »Aporie«. Die »Einheit« steht mit vielen Gründen in Frage, ohne die unbestreitbare Beziehung beider Schriften schon auf andere Weise beschreiben zu können. Hinter die Studien von Parsens/Pervo (1993) oder den Sammelband von Gregory/Rowe (2010), die in der englischsprachigen Welt inzwischen »landmark status« haben, im deutschsprachigen Kontext aber noch kaum wahrgenommen worden sind, kommt die Forschung jedenfalls nicht mehr zurück. Die neue Debatte um Markions Lukastext tritt komplizierend hinzu. Ein »rethinking« des ganzen Fragenkreises ist unausweichlich geworden.

»C Das lukanische Cluster im antiken Christentum« nimmt die frühe Rezeptionsphase des »Doppelwerks« in den Blick. In eindringlichen Analysen werden alle Spuren kodikologischer und literarischer Art durchgemustert und geprüft. Das Ergebnis lautet: »Für die konventionelle Annahme, Lk und Apg seien ursprünglich zwei Teile eines literarischen Werkes und aus buchtechnischen Gründen frühzeitig getrennt worden, fand unsere Untersuchung insgesamt keine belastbaren Hinweise. Die frühesten Nutzer und buchkompetenten Beobachter gehen implizit wie explizit von zwei ab origine selbständigen, also monographischen Werken aus.« (232) In der hsl. Überlieferung werden Lk und Apg »auf eigenständige Weise textuell behandelt, verortet und tituliert« (233); eine simultane Nutzung lässt sich (von vagen Ansätzen in EpApost und EpPt abgesehen) in der frühen Rezeptionsphase nicht nachweisen. Erst Irenäus versteht (um 180) Lk und Apg als auktoriale Einheit eines »interdependenten Schriftenclusters« und wird damit gleichsam zum »Entdecker« des »Doppelwerkes« (235). Sein Interesse verdankt sich dabei den theologisch-kirchenpolitischen Kontroversen der Zeit. Dennoch bleibt in der Folge trotz elaborierter wechselseitiger Interpretationen die Wahrnehmung von Lk und Apg im Sinne zweier eigenständiger Werke (wenngleich eines Autors) bestehen. »So ergibt sich: Die Frage nach dem lukanischen Doppelwerk hat sich uns als ein Fluidum erwiesen.« (328)

»D Die ›Einheit‹ von Lukasevangelium und Apostelgeschichte« sichtet die immer wieder ins Feld geführten Referenzpunkte, die schon bei einer flüchtigen Lektüre ins Auge springen. Dafür braucht es zunächst eine Verständigung über den Begriff »Einheit«: seine Typen (single work-, sequel- oder linkeage-Hypothese), Modi (medial, auktorial, sprachlich, kompositorisch, narrativ, konzeptionell, pragmatisch, generisch, rezeptionsgeschichtlich, lektürepragmatisch), Beziehungsprofile (Kontinuität, Kohärenz, Komplementarität), Perspektiven (prospektiv, retrospektiv) sowie seine Erstreckung (Produktions- und Rezeptionsebene). Unter dieser Voreinstellung werden nun die beiden Proömien, die »Hinführungserzählung« (Lk 1–2), die Nazareth- und die Emmausepisode, die beiden Himmelfahrtserzählungen und der Schluss in Apg 28 einer exemplarischen Analyse unterzogen. Ihr folgt eine Untersuchung konzeptioneller Strukturen sowie der großen, sich durchziehenden Themenlinien, christologischen Profile, geschichtstheologischen Modelle, ethischen Standards, eschatologischen Perspektiven oder narrativen Konstellationen. Schließlich kommt auch die Frage nach der auktorialen Einheit noch einmal auf den Tisch, nun aber unter Anwendung moderner Methoden der Stilanalyse. Den Abschluss bildet eine Darstellung und Auswertung der Markion-Debatte, die bislang weitgehend unabhängig von der Luke-Acts-Debatte stattgefunden hat. Wie viel beide Debatten miteinander zu tun haben, liegt auf der Hand; wie wenig eine Vernetzung zur Lösung des eingangs beschriebenen Problems beiträgt, überrascht. Das übergreifende Konzept oder »Großnarrativ«, das die frühe Kirche in Lk/Apg wahrnimmt, lässt sich folgendermaßen beschreiben: »Christus bringt Israel in Tat und Wort das Heil; die Zeugen entgrenzen das Evangelium Christi in Wort und Tat; in dieser Heilsinitiative und deren Entgrenzung setzt sich Gottes Geschichtsführung durch.« (314) Darin findet auch die Israelperspektive beider Schriften ihr grundlegendes Format: Nicht Ausgrenzung oder Abkehr, sondern Entgrenzung und Öffnung tragen den Ton. Beide Werke repräsentieren »dasselbe Sprachgebiet« (397). Die »Achse Luke-Acts« wird in der Auseinandersetzung der Gesamtkirche mit den Markioniten zunehmend als Ausdruck der eigenen Geschichtswahrnehmung entdeckt und perspektivisch arrangiert (426). Lk und Apg lassen sich konzeptionell und inhaltlich nach dem Modell »konsekutiver und komplementärer Intertextualität« verstehen (427).

»E Gattungssequenz und Textpragmatik des lukanischen Verbunds« spüren dem Potential nach, das in der Verbindung von Lk/Apg liegt. Die Suche nach einer übergreifenden Gattung hat sich als Irrweg erwiesen. Doch für eine Clusterbildung unterschiedlicher Gattungen gibt es durchaus Analogien. Vor allem sind Gattungen von jeher als »fluide Schreib- und Lektüremuster« zu verstehen, die eher durch »Schnittfelder als durch Schnittlinien« geschieden sind (461). In einem solchen »komplementären Gattungsverbund« öffnen sich insbesondere für Bios und Historia, die »offene Texttypen« sind, Spielräume. »So ist der lukanische Bios historiographisch eingefasst und ausgerichtet und die lukanische Historia biographisch begründet und strukturiert.« (473) Was Overbeck als »Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen« sah, ist »keine skandalöse Entgleisung, sondern experimentelles Programm.« (484) »Lukas« entwirft damit das Bild einer epochalen Stiftungszeit, eine die Gegenwart fundierende Ursprungsgeschichte, eine Meistererzählung der frühchristlichen Schwellenzeit – was als »Pioniertat zur Ausprägung eines sozialen Funktionsgedächtnisses im Frühchristentum« zu würdigen ist (499). Damit wird auch die leidige Debatte um »Heil und Geschichte« überwunden und »Geschichte« in ein neues Koordinatensystem eingeordnet. Eine Graphik mit hohem Erschließungswert (485) visualisiert noch einmal dieses komplexe Modell.

»F Ertrag« fasst, nachdem in den vorausliegenden Kapiteln jeder Stein einzeln umgedreht worden ist, das ganze Themenfeld in 17 Thesen zusammen. Sie machen deutlich, dass und wie ihr Autor neue Maßstäbe setzt. Die »unity of Luke-Acts« ist nach 550 Seiten keineswegs obsolet, wenn man sie nur von den Eierschalen fal-scher Vorannahmen befreit.

Das Buch (das nebenbei auch noch frisch und pointenreich geschrieben ist) scheint das Zeug zu einem neuen Klassiker zu haben. Auf jeden Fall aber dürfte damit die lange Zeit tapfer ignorierte englischsprachige Debatte um die Beziehung zwischen Lk und Apg nun endgültig auch in der deutschsprachigen Exegese angekommen sein.