Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

443-445

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ego, Beate

Titel/Untertitel:

Tobit.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2022. 388 S. = Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783170204430.

Rezensent:

Paul Deselaers

Die alttestamentliche Forschung hat sich lange Zeit nur wenig mit dem Buch Tobit beschäftigt. Die Gründe für das weitgehende Desinteresse der wissenschaftlichen Exegese liegen zum einen darin, dass die Tobiterzählung am allgemeinen Schicksal der deuterokanonischen bzw. apokryphen Bücher des Alten Testaments partizipiert hat, die in ihrer Dignität den Büchern der hebräischen Bibel nachgeordnet waren. Zum anderen haftet seit Julius Wellhausen der literarischen Produktion des frühen Judentums der »Abfall« Israels zum »Judentum« an, das pauschal mit dem weithin undifferenziert verwendeten Begriff des »Nomismus« belegt wurde. Überdies sah man in der reformatorischen Tradition in diesem Buch keinen der großen zentralen Impulse des JHWH-Glaubens wirksam. Deshalb gehörte es im Horizont der alttestamentlichen Tradition eher an den Rand. Im Gegensatz dazu war das Buch über die Jahrhunderte hinweg in der Volksfrömmigkeit, in Dichtung, Malerei und Musik beliebt, was nicht nur an seinem menschlichen Sujet, sondern auch an seiner besonderen Erzählweise und damit an seiner literarischen Qualität lag.

Erst nach und nach hat das Phänomen des Frühjudentums die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Damit ist das Problem des Ringens um die Identität Israels unter den Bedingungen der Diaspora und darüber hinaus der Vielfalt theologischer Strömungen sowie der Konkurrenz theologischer Schulen erkennbar geworden. Zusätzlich und entscheidend hat die Publikation der Qumranfunde mit den aramäischen und hebräischen Textfragmenten der Tobit-Überlieferung seit der Mitte der 1980er Jahre neues Interesse am Buch Tobit geweckt.

Mit dem vorliegenden Werk von Beate Ego steht jetzt eine ausführliche und umfassende, dem Konzept der Reihe IEKAT folgende synchron und diachron ausgerichtete Untersuchung der Tobiterzählung zur Verfügung, die die vielen Einzelergebnisse einer immens angewachsenen Literatur einer Synthese zuführt und innovativ die Textgeschichte des Werkes konsequent mit den wechselnden religionsgeschichtlichen Kontexten verbindet. Die Autorin, Professorin für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Ruhr-Universität Bochum, hat bereits eine Fülle von Publikationen zum Buch Tobit vorgelegt.

Entsprechend der komplexen Textüberlieferung des Buches, das in mehreren, teilweise sehr unterschiedlichen Versionen vorliegt, wird die textkritische Fragestellung gleich zu Beginn des Kommentars behandelt, um eine fundierte Auslegungsbasis zu erhalten. Die Frage der Textversion hat E.s Position in diesem Punkt wesentlich bestimmt. »Die Qumranfunde (von 1952) konnten eindeutig belegen, dass die Erzählung ursprünglich in einer semitischen Sprache verfasst wurde« (15). In einer genauen Analyse hat sich die Annahme verstärkt, dass die Erzählung zunächst auf Aramäisch verfasst und dann ins Hebräische übersetzt wurde, um eine größere Autorität zu bekommen. Angesichts der Tatsache, dass die Qumrantexte im Wesentlichen der Form des griechischen Langtextes (GII = Codex Sinaiticus) entsprechen, hat sich als Konsens herausgebildet, dass GII die ältere Textform darstellt, die in GI (= Codex Vaticanus/Codex Alexandrinus) überarbeitet wurde, wie sich an Kürzungen und Glättungen zugunsten eines flüssigen Griechisch zeigt. Die griechischen Texte, die durchaus eigene theologische Akzente setzen, bilden wiederum die Grundlage für weitere Übersetzungen ins Lateinische, Syrische, Koptische, Äthiopische, Armenische, Georgische und Arabische. Hinweise auf die Aktivität von Schreibern, die punktuell in den Text eingegriffen haben, legen die Vermutung nahe, dass es für das Tobitbuch einen längeren Wachstumsprozess und einzelne Fortschreibungen gegeben hat, wenngleich offenbar konkrete Schichten der Bearbeitung mit den Methoden der klassischen Literarkritik nicht mehr auszumachen sind. Auf der Basis der skizzierten textkritischen Einsichten und Entscheidungen stellt E. eine genaue Übersetzung an den Anfang ihrer Kommentierung.

In der Einzelauslegung folgt auf die synchrone Analyse mit Beobachtungen zur Gliederung und Struktur des Textes, zur Erzählweise, zu markanten Motiven, theologischen Akzenten und buchinternen Bezügen jeweils die diachrone Analyse. Sie erkundet den gesamtbiblischen Echoraum mit intertextuellen und traditionsgeschichtlichen Aspekten und bezieht außerbiblische wie auch archäologische Gesichtspunkte mit ein. In der Synthese aus beiden Arbeitsgängen werden Erzählstränge verbunden und Handlungsebenen hinsichtlich ihrer kollektiven und individuellen Blickrichtung reflektiert. Darin kommt auch die Leserorientierung zur Geltung.

Eingebettet in die tiefenscharf belichtete biblische und außerbiblische Tradition leuchtet die Tobiterzählung in ihrer Originalität neu auf: Im Kern erzählt sie zwei Heilungsgeschichten in der assyrischen Diaspora. Tobias gelingt es mit Hilfe eines Engels in Menschengestalt, also Gottes Hilfe, seine eigenen Hemmnisse zu überwinden und tatkräftig zuerst die dämonenbesessene Sara und später seinen blinden Vater Tobit aus ihren jeweiligen Lebensgefängnissen zu befreien. In allem geht es darum, die Tora (z. B. umfassendes solidarisches Handeln, Endogamie, göttlicher Lobpreis) unter den Bedingungen der Diaspora zu leben, um die Identität des Volkes in einer Minderheitensituation zu stabilisieren. »Letztlich aber wird die Rückkehr ins Heilige Land und in die herrlich erbaute Stadt Jerusalem erwartet. Das individuelle Schicksal der Protagonisten dient als Paradigma für das Geschick des Volkes und fungiert als Beispielgeschichte für dessen Erlösung« (15). »Literarische Mittel wie die emotionale Darstellung des Geschehens dienen dabei den Rezipienten als Identifikationspotential, das die Funktion der Erzählung als individuelle und kollektive Resilienzresource erschließt« (56). Hinsichtlich der Datierung der ursprünglichen Textversion ist der Zeitraum um 200 v. Chr. nicht unwahrscheinlich. Über den Entstehungsort der Erzählung liegt kein Forschungskonsens vor. Entsprechend bleibt die Verfasserin zurückhaltend mit einer Festlegung, da vielfältige, in der Traditionsgeschichte verifizierbare Motive eingeflossen sind. Sie rechnet mit einem hellenistisch gebildeten Autor in einem prosperieren-den Milieu.

Die Verfasserin hat einen außerordentlich gediegenen und gut lesbaren Kommentar vorgelegt, der nicht nur eine Fundgrube, sondern auch auf lange Sicht für alle weiteren Arbeiten am Buch Tobit ein Maßstab sein wird. Sie würdigt das Gewicht und die theologische Leistung der Erzählung. Auf der Basis sauberer historisch-kritischer Arbeit mit abgewogenen Urteilen zeichnet sie auch das Frühjudentum am Beispiel des Tobitbuches als innovative theologische Phase. Denn die Gefahr der Assimilation an die fremde Umwelt wird in dieser Zeit zur Überlebenskrise für die Glaubensidentität Israels. Im Rückgriff auf biblische und adaptierte außerbiblische Traditionen wird eine Widerstandsfähigkeit gegen den drohenden Identitätsverlust ausgebildet und durch eine theologische Geschichtsschau über die Gegenwart hinaus Zuversicht geweckt.

In der Verarbeitung einer immensen Stofffülle zeigt E. einen selten gewordenen Stil: Mit ausdrücklichem Dank an die Verfasser bezieht sie sich auf vorausgehende Studien und pflegt entsprechend einen respektvollen Umgang mit der Sekundärliteratur.

Das Buch Tobit ist mehr als ein antiker Text. Man hätte sich gewünscht, dass von dem reichen historischen Wissen mutig Linien nach heute ausgezogen worden wären. Denn von den gesellschaftlichen, ekklesiologischen, existentiellen und geistlichen Aspekten der Tobiterzählung her drängen sich viele Fragen an unsere heutige Welt auf. Der Text eignet sich in Verbindung mit literaturwissenschaftlicher Analyse und der Integration theologischer Interpretation auch heute für eine neue existentielle Auslegung. Eine wichtige Überlegung nach dieser überaus lohnenden Lektüre.