Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

435-436

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hutter, Manfred

Titel/Untertitel:

Religionsgeschichte Anatoliens. Vom Ende des dritten bis zum Beginn des ersten Jahrtausends.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 356 S. = Die Religionen der Menschheit, 10/1. Geb. EUR 109,00. ISBN 9783170269743.

Rezensent:

Harald Suermann

Manfred Hutter lehrt seit 2000 Religionswissenschaften an der Universität Bonn. Seine Arbeiten behandeln verschiedene aktuelle und historische Religionen. Unter anderem hat er etliche Beiträge zu den Religionen Anatoliens geschrieben, dem Thema dieses Bandes der Reihe Religionen der Menschheit, dessen Mitherausgeber er ist.

Der Band behandelt die Geschichte der Religionen Anatoliens zwischen dem 3. und dem 1. Jt. v. Chr. H. schreibt in seiner Einleitung, dass die Religionsgeschichte Anatoliens ein Kapitel »toter« Religionsgeschichte sei. Aufgrund der überlieferten Dokumente kann keine lückenlose Geschichte der Religionen Anatoliens geschrieben werden. Die Wissenslücken in Anbetracht der großen Vielfalt sich gegenseitig beeinflussender Religionen sind erheblich. Trotzdem erhält der Leser einen umfassenden, wenn auch nicht lückenlosen Einblick. Am besten sind wir über die Hethiter, vor allem aus der Zeit ihres Großreiches, unterrichtet; hier sind die religiösen Texte am besten zugänglich. Mit den Religionen Mesopotamiens und Syriens gab es einen Austausch, auf den H. verweist, er geht aber nicht näher auf sie ein – genauso wenig wie auf die Religionen und Kulturen in der ägäischen Welt.

Die für den vorliegenden Band relevanten Texte sind in einem Dutzend Sprachen geschrieben, die meisten Texte liegen in Hethitisch vor, aber auch Dokumente in hattischer, hurritischer und luwischer Sprache, genauso wie hieroglyphen-luwische und Keilschrifttexte werden berücksichtigt. Sie gehören sehr verschiedenen literarischen Gattungen an. Hutter teilt sie in Anlehnung an van den Hout in zwei Gruppen: 1. Texte mit Duplikaten wie Edikte, Gesetze, Hymnen, Gebete, Rituale, Mythologien etc.; sie sind präskriptiv; 2. Unikate wie Briefe, Besitzurkunden, Gelübde, adminis­trative Texte, etc.; sie sind deskriptiv.

H. fragt, was »Religion« in Anatolien ist. Seinem Werk legt er ein Religionsverständnis gemäß der Symbol-Theorie zugrunde und beachtet damit auch die identitätsstiftende Rolle der Religion für die Gemeinschaft. Ein rein substanzialistisches oder funktionalistisches Religionsverständnis verwirft er als unzureichend: »Es geht nicht darum, das (religionsphilosophische) Wesen der Regionen Kleinasiens zu rekonstruieren, sondern es sollen die verschiedenen Formen religiöser Praktiken in ihrer jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Verortung dargestellt werden, wobei auch lokale und individuelle Formen der Religionsausübung so weit wie möglich berücksichtigt werden müssen.« (29)

Auch wenn H. keine durchgehende Religionsgeschichte vorlegen will, so wird doch eine zeitliche Folge in der Betrachtung zugrundegelegt: A Einleitung und Forschungsstand (9–31); B Frühe religiöse Vorstellungen Anatoliens am Beispiel der Gräber von Alaca Höyük und der Briefe aus den altassyrischen Handelskolonien in Zentralanatolien (32–54); C Religion in der althethitischen Zeit (55–119); D Religiöser Wandel und Neuerungen zwischen der althethitischen Zeit und dem hethitischen Großreich (120–177); E Religion in der Großreichszeit (178–289); F Zum Weiterwirken religiöser Traditionen in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends (290–319); G Anhang (320–355) mit Liste hethitischer Könige; drei Karten; Literaturverzeichnis und Register (Keilschrifttexte, hieroglyphen-luwische Texte, Wörterverzeichnis [hattisch, hethitisch, hurritisch, luwisch], Orte, Gottheiten, Personen und Stichworte).

Für die Zeit des hethitischen Großreiches ergeben sich aufgrund der Datenlage drei Ebenen der Betrachtung: 1. die politische Religion des hethitischen Staates; 2. die dynastische Religion des Königshauses, die mit der politischen Religion des Staates verbunden ist; 3. die Religion der Allgemeinbevölkerung, die aber zum Teil nur erschlossen werden kann. Je nach Quellenlage werden die drei Ebenen in den anderen Abschnitten in unterschiedlicher Länge behandelt.

In der Darstellung der Götterwelt erhält das Staatspantheon einen besonderen Platz. Dabei spielen der Wetter- und der Sonnengott eine besondere Rolle. Wichtige Kultstädte sind vor allem die hethitische Hauptstadt H˘attuša, aber auch Städte wie Nerik, Arinna und Ziplanta werden in ihrem religiösen Gepräge in den einzelnen Kapiteln beschrieben. Die Orte der Verehrung werden unterschieden in Tempel, Schreine, Open-Air-Kultstätten, Stelen, heilige Quellen und Berge. Die Akteure und Akteurinnen der Kulte kommen ebenso zur Darstellung wie Feste, Staatskulte und Opferpraxis. Die Praxis der Religion im häuslich-familiären Kontext wie auch Reinheit und Rituale der Krisenbewältigung finden ihre Darstellung. Bestattungsrituale und Kommunikation mit den Gottheiten sind weitere Aspekte. Ebenso kommen die durch die Religion begründeten ethischen Werte zur Sprache. Die Darstellung berücksichtigt dabei auch die Vielfalt der Religionen.

Zwar verweist H. gelegentlich auf archäologische Ergebnisse, um seine Ausführungen zu unterstützen, längere Ausführungen fehlen aber genauso wie erläuternde Zeichnungen oder Bilder. H. stützt sich überwiegend auf Dokumente in den unterschiedlichen Sprachen. Wissenslücken versucht er nicht dadurch zu schließen, dass er ähnliche Phänomene aus den Nachbarreligionen zur Ergänzung hinzuzieht. Er warnt sogar vor einer Ergänzung der Götterbilder aufgrund gleichnamiger Götter aus anderen Kulturen und Religionen. Zwar betrachtet H. die Religionen chronologisch, aber die Ordnung erfolgt gemäß unterschiedlichen Perspektiven auf die Religionen und deren Funktionen und Orte. Immer wieder verweist er auch auf Brüche und Kontinuität in den Religionen wie auf ihre gegenseitige Durchdringung, Abgrenzung und Bereicherung. Fremde Einflüsse und religiöser Wandel kommen ebenso zur Sprache wie die Pluralisierung der religiösen Traditionen. Im letzten Teil geht H. auch auf die Religionsausübung in den Handelskolonien im altassyrischen Raum ein.

Das Werk ist ganz aus den textlichen Quellen erarbeitet worden. Die vielen Quellen in den unterschiedlichen Sprachen wurden ausführlich berücksichtigt und ausgewertet. Dabei hat sich H. ausschließlich an die in den Texten genannten Fakten gehalten. Das führt nicht zu einer lückenlosen Religionsgeschichte, aber das Werk ist frei von Spekulationen aufgrund von Ähnlichkeiten in anderen Religionen. Der in vielen Religionen bewanderte Religionswissenschaftler legt hier ein wichtiges Werk vor, das auf etlichen eigenen Studien zum Thema beruht. Es ist ein Referenzwerk zu den Religionen Anatoliens.