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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

433-434

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Arnaldez, Roger

Titel/Untertitel:

Al-Hallag oder die Religion des Kreuzes. Die Suche nach dem Absoluten aus christlicher und muslimischer Perspektive. M. e. Geleitwort v. A. M. Karimi. Vorwort u. Übertragung ins Deutsche v. Ch. W. Troll.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2022. 168 S. = CIBEDO-Schriftenreihe, 6. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783791733272.

Rezensent:

Klaus Hock

Der Mystiker al-Ḥallāǧ (857−922 n. Chr.) gehört zweifelsohne zu den faszinierendsten Gestalten der Religionsgeschichte. Wer sich mit ihm akademisch beschäftigt, kann dafür Aberhunderte von Publikationen konsultieren, die bis ins 10. Jh. unserer Zeitrechnung zurückreichen – die frühesten sind noch zu seinen Lebzeiten von Zeitgenossen, Freunden und Bewunderern oder auch Kritikern verfasst worden. Für die moderne abendländische Forschung ist dabei das 1922 erschienene zweibändige Werk von Louis Massignon (1883−1962; inzwischen liegt eine englische Übersetzung in vier Bänden vor) nach wie vor eines der bedeutsamsten, wenngleich mühsam zu erschließenden, Referenzwerke zum Thema. Vor knapp 60 Jahren hat der Massignon-Schüler Roger Arnaldez (1911−2006) ein Bändchen publiziert, das von Christian W. Troll SJ nun ins Deutsche übertragen und mit einem kurzen Vorwort versehen wurde. Der Grund für diese Wiederveröffentlichung in deutscher Übersetzung dürfte (neben der Absicht, die Studie für deutschsprachige Leserinnen und Leser zugänglich zu machen) unter anderem in der Besonderheit des Zugangs zur Gestalt al-Ḥallāǧs zu sehen sein, den A. gewählt hatte – das Nachzeichnen seines religiösen Werdegangs –, vor allem aber auch in der reflektierten Auseinandersetzung des Autors mit den Aussagen des Mystikers über Jesus, die für das christlich-muslimische Gespräch durchaus erhellende Impulse zu geben verspricht.

Eine kurze biographische Notiz zu al-Ḥallāǧ leitet den Band ein, bevor in vier Kapiteln wichtige Grundpfeiler seines Denkens systematisch vorgestellt werden. »Der Todesrausch« ist die erste Einheit überschrieben, in der A. herausarbeitet, wie der Mystiker durch Meditationen über koranische Passagen zu dem Schluss kommt, »im Tod den privilegierten Moment des Zeugnisses zu sehen«, und aus diesem heraus erhält auch al-Ḥallāǧs Leben »seinen wahren Wert als Zeugnis« (44). Im zweiten Kapitel – »Vom Gesetz zur Ekstase«– schlägt A. den Bogen von al-Ḥallāǧs Kritik einer juristisch-kasuistischen Engführung der Traditionen, die sich auf die praktische Frömmigkeit beziehen, hin zur Fokussierung auf die Erfahrung der Gottesliebe, in der auch das Handeln seiner Gegner und Peiniger aufgeht und ihn dazu bringt, sein Zeugnis in die berühmte Formel anā al-h.aqq – »Ich bin die schöpferische Wahrheit« zu gießen; hier ordnet der Autor den Mystiker sowohl in die vorausgegangene Geistesgeschichte ein und skizziert quasi vorwegnehmend wichtige Bausteine seines Denkens und Lebens, die sich von der späteren Deutung Ibn al-ʿArabīs abheben. Das dritte Kapitel, »Die Ekstase des al-Ḥallāǧ« analysiert en détail die in der genannten Formel zum Ausdruck kommende Erfahrung, wobei A. hervorhebt, dass die ekstatische Erfahrung nicht als ein aus der mystischen Praxis resultierender Zustand zu verstehen ist; »sie kommt von Gott allein« (121). Im vierten Kapitel, »Jesus in der Meditation von al-Ḥallāǧ«, richtet Arnaldez sein Augenmerk auf die Frage, inwieweit sich im Nachdenken (oder gar Nach-Empfinden) des Mystikers über koranische Passagen und islamische Traditionen zu Jesus christlich-christologische Assonanzen spiegeln könnten, was er grundsätzlich verneint: »Der Christus, den er meditiert hat, das ist ʿĪsā ibn Maryam des Korans, nicht der Christus der Christen« (214). Entsprechend ist das Kreuz für al-Ḥallāǧ ein Symbol für einen Weg, den auch er eingeschlagen hat, aber nicht das Kreuz, an dem Jesus gestorben ist – mit allen Implikationen, die sich daraus für den christlich-muslimischen Dialog ergeben. Im »Schlusswort« folgt A. der These seines Lehrers Massignon, dass al-Ḥallāǧ als sunnitischer Mystiker zu verstehen ist, der trotz möglicher christlicher Resonanzen selbst in der ekstatisch erlebten Gottesnähe fest im islamischen Glauben verankert war: »[…] das Absolute von al-Ḥallāǧ bleibt ein muslimisches Absolutes« (140).

Mit der vorliegenden Publikation werden Leben, Wirken und Werk des berühmten Mystikers für eine breite Leserschaft erschlossen. Gleichsam auf der Meta-Ebene eröffnet das Bändchen zudem einen Blick auf die Rezeption und Interpretation al-Ḥallāǧs sowohl innerhalb der islamischen Geistesgeschichte als auch im Kontext »westlicher« islamwissenschaftlicher und theologischer Diskurse. Dabei überzeugen die luzide, unverschnörkelte und verständliche Darstellung komplexer theologischer Sachverhalte ebenso wie die nüchterne Analyse der bisweilen opaken Eigentümlichkeiten des Ḥallāǧ’schen Denkens.