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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

402-404

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Ben-Johanan, Karma

Titel/Untertitel:

Jacob’s Younger Brother. Christian-Jewish Relations after Vatican II.

Verlag:

London u. a.: Harvard University Press (Belknap Press) 2022. 352 S. Geb. £ 28,95. ISBN 9780674258266.

Rezensent:

Andreas Pangritz

Bei diesem Buch der israelischen Historikerin Karma Ben-Johanan, die 2021/22 eine Professur für das christlich-jüdische Verhältnis in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin bekleidet hat, handelt es sich um die englischsprachige Neubearbeitung einer ursprünglich auf Ivrit verfassten und 2020 in Tel Aviv veröffentlichten Dissertation, deren Originaltitel übersetzt werden könnte mit: »Ein Linsengericht. Wahrnehmungen von Christen und Juden im Zeitalter der Versöhnung«. Sowohl der ursprüngliche als auch der für die englische Version gewählte Titel spielt auf die Jakob-Esau-Konstellation an. Die Konkurrenz der Brüder um den Erstlingssegen wurde sowohl in jüdischer als auch in christlicher Wahrnehmung kollektiv gedeutet als Präfiguration der Konfliktgeschichte zwischen Juden und Christen im Streit darum, wer das »wahre Israel« repräsentiert. Die Vfn. legt jedoch keine Gesamtdarstellung des christlich-jüdischen Verhältnisses vor, sondern richtet den Fokus – wie der Untertitel andeutet – auf die gegenseitige Wahrnehmung von römisch-katholischer Kirche und orthodoxem Judentum in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als die katholische Kirche mit der Erklärung Nostra aetate (Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, 1965) ihre Stellung insbesondere gegenüber dem Judentum neu definierte. Dabei will die Vfn. weniger die Errungenschaften als vielmehr die Probleme der Annäherung erörtern: Gründe für den Widerstand innerhalb der jüdischen Orthodoxie gegenüber dem Dialog und Strategien innerhalb der katholischen Welt, um die tiefsten Fragen im Kontext der Versöhnung zu vermeiden (4).

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile: Der erste befasst sich mit der Art und Weise, wie katholische Theologen das christlich-jüdische Verhältnis nach dem Holocaust und insbesondere nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil behandelt haben; der zweite konzentriert sich auf die Frage, wie jüdisch-orthodoxe Gelehrte nach dem Holocaust und der Gründung des Staates Israel das Christentum wahrgenommen haben.

Im ersten Hauptteil wird verdeutlicht, dass auf dem Zweiten Vatikanum nicht weniger als die theologische Bedeutung des Judentums nach der Kreuzigung Jesu zur Debatte stand (34). Wie ließ sich die Hoffnung auf eine Bekehrung der Juden mit der Feststellung vereinbaren, dass sie trotz ihrer Weigerung, die Messianität Jesu anzuerkennen, immer noch von Gott geliebt seien? Die Lösung schien darin zu bestehen, von der Rolle der Juden in der Heilsgeschichte als einem »Geheimnis« zu reden (53). Ungelöst blieben die Fragen nach der theologischen Bedeutung des Holocaust und des Staates Israel, aber auch die nach der Legitimität der Judenmission – Fragen, die erst nach dem Konzil vertieft wurden. Unter der Ägide von Papst Johannes Paul II. sei jedoch die Klärung theologischer Fragen weitgehend vermieden und durch performative Gesten der Versöhnung ersetzt worden (96) – mit dem Ergebnis, dass am Ende seines Pontifikats die Beziehungen zwischen den Juden und der katholischen Kirche zumindest auf der Oberfläche besser zu sein schienen als je zuvor (106). Das habe sich unter Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. geändert, da dieser darauf bestanden habe, die Fragen des christlich-jüdischen Verhältnisses in die weitere Landschaft der katholischen Theologie zu integrieren (110). Er sei damit jedoch weitgehend gescheitert, wie der Streit um Dominus Jesus, insbesondere aber der um die Karfreitagsbitte für die Bekehrung der Juden gezeigt habe (140).

Der zweite Hauptteil setzt mit einem historischen Längsschnitt durch die Geschichte jüdischer Sichtweisen des Christentums von der Antike bis in die Neuzeit ein, um sich dann der Frage zuzuwenden, wie das Christentum in zeitgenössischer halachischer Literatur dargestellt werde. Weitere Kapitel widmen sich der kompromisslosen Einstellung des religiösen Zionismus gegenüber dem Christentum und der zögerlichen Haltung der orthodoxen Welt gegenüber dem christlich-jüdischen Dialog. Die Vfn. vertritt die These, dass Errungenschaften der Demokratie wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Religionsfreiheit, aber auch die Säkularisierung und die Gründung eines jüdischen Staates dazu beigetragen hätten, dass anti-christliche Positionen des zeitgenössischen rabbinischen Judentums sich, befreit vom christlichen Druck, verstärkt artikulieren konnten. Über das scheinbare Paradox einer größeren Kompromisslosigkeit angesichts eines Zeitgeistes, der größere Toleranz verlange, dürfe man sich nicht wundern. Orthodoxe Juden nutzten ihre Befreiung von christlicher Dominanz, um sehr viel energischer als in früheren Generationen anti-christliche Positionen zu vertreten (165).

Was die Haltung der orthodoxen Welt gegenüber dem christlich-jüdischen Dialog betrifft, betont die Vfn., dass der Dialog eher in Europa, vor allem aber in den USA entwickelt sei, wo Juden und Christen sich als Partner in der Verantwortung für das Gedeihen ihrer gemeinsamen Kultur sähen (229 f.). Im »mainstream« der Orthodoxie werde der Raum des Dialogs jedoch begrenzt und vom Bereich der Lehre bzw. der Halacha abgetrennt (232). Maßgeblich für diese Kompromisslinie sei die Position von Joseph Soloveitchik geworden, der 1965 – noch vor der Verabschiedung von Nostra aetate – mit seinem Essay »Confrontation« die Grenzen des Dialogs abgesteckt habe. Die Moderne mit ihrer Verheißung der Universalität stelle aus Soloveitchiks Sicht eine Gefahr für den Partikularismus und die Bundesverpflichtung der Juden dar (237). Er habe die Juden aber dazu aufgerufen, mit den Christen auf der Grundlage gemeinsamer kultureller Überzeugungen gegen die Kräfte der Säkularisierung zusammenzuarbeiten (240). Innerhalb der modernen Orthodoxie sei Soloveitchiks Essay zum autoritativen Standard geworden, an dem interreligiöse Kooperation gemessen werde. Allerdings sei die Intention des Aufsatzes sehr unterschiedlich interpretiert worden (241). So habe Irving Greenberg einen »covenantal pluralism« propagiert, in dem die Christenheit als Bundespartner des Judentums bei der Heilung der Welt (tikkun olam) anerkannt werde (247). Alles in allem kommt die Vfn. jedoch zu dem Ergebnis, dass der Dialog stark von einem Einverständnis darüber abhängig sei, worüber geschwiegen werden müsse (271).

In einem Epilog bietet die Vfn. einen Ausblick auf jüngste Entwicklungen. Die Praxis Johannes Pauls II., im Interesse einer Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses allzu tiefgreifende theologische Erörterungen zu vermeiden, habe sich auch unter Papst Franziskus durchgesetzt (277). Dies habe Joseph Ratzinger nicht verstanden, der von Fragen der Lehre geradezu besessen gewesen sei. Während die Kirche nichts mehr mit einem Intellektuellen an ihrer Spitze anzufangen gewusst habe (278), sei Benedikt XVI. als Bedrohung für die christlich-jüdischen Beziehungen erschienen – ein unmoderner Traditionalist, wenn nicht gar ein Antisemit (280). Spannungen innerhalb der jüdischen Orthodoxie im Blick auf den Dialog dokumentiert die Vfn. schließlich anhand zweier Dokumente, die 2015 bzw. 2017 aus Anlass des 50. Jubiläums von Nostra aetate veröffentlicht worden sind: »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun« und »Zwischen Jerusalem und Rom«. Damit sei es der Orthodoxie gelungen, die Grenzen des Dialogs nicht nur für Juden, sondern auch für Christen zu bestimmen (287).

Man mag bedauern, dass die vorliegende Studie protestantische und liberal-jüdische Perspektiven weitgehend ausklammert. Indem sie sich auf das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und jüdischer Orthodoxie konzentriert, einen Sektor der christlich-jüdischen Beziehungen, der im Allgemeinen nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, leistet sie jedoch einen wichtigen Beitrag zur umfassenden Wahrnehmung der Probleme, die das Verhältnis von Christen und Juden prägen. Die Darstellung mancher feindseliger Äußerungen aus ultra-orthodoxen und religiös-zionistischen Kreisen gegenüber dem Christentum mag auf Vertreter des Dialogs ernüchternd wirken. Aber es ist gewiss kein Fehler, den Tatsachen ins Auge zu sehen, statt sich in Illusionen zu wiegen. Angesichts der traditionellen Vorbehalte, die hier zu überwinden sind, wird es aus christlicher Perspektive in Zukunft jedoch verstärkt darauf ankommen, gerade auch die gesprächswilligen und -fähigen Kreise innerhalb der jüdischen Orthodoxie angemessen zu würdigen und ihre ausgestreckte Hand zu ergreifen.

Das Buch enthält einen Index, der Sach- und Namenregister kombiniert, aber bedauerlicherweise kein Literaturverzeichnis.