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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

396-398

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Roggenkamp, Antje, u. Johannes Wischmeyer [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Bildung im langen 19. Jahrhundert. Spannungsfelder, Orte, Medien, Berufsprofile.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 316 S. = Studien zur religiösen Bildung, 23. Geb. EUR 74,00. ISBN 9783374071395.

Rezensent:

Heinz-Elmar Tenorth

Dieser Sammelband geht auf eine Tagung des »Arbeitskreises für historische Religionspädagogik« zurück, die 2021 stattgefunden hat. Das Ergebnis ist ein aufschlussreicher, quellennah gearbeiteter und systematisch reflektierender Band, der zugleich den Kontext der professionellen – protestantischen – Religionspädagogik in seinen Leistungen wie in seinen Grenzen nicht verleugnen kann. Für einen potentiellen Leser ist deshalb der Hinweis auf die Differenz wichtig, die zwischen dem Titel, »religiöse Bildung«, und den Themen des Bandes besteht. Der Band platziert »religiöse Bildung« im institutionellen Kontext von Schule und Kirche und in den pädagogischen Praktiken, Ausbildungstexten und Reflexionen, die sich im – »langen« (Hobsbawm kommt zu Ehren) – 19. Jh. manifestieren und verändern. Man darf also nicht Studien über lebensweltliche Formen religiöser Bildung erwarten, wie sie sich z. B. in Familien oder peer groups ereignet, sonst wird man enttäuscht.

Die Lektüre wird erleichtert durch das sehr differenzierte, für die Ambitionen des Bandes und seine Themen ausgesprochen hilfreiche »Vorwort«. Es gibt einen Vorblick auf die Abhandlungen (wobei etwas irritiert, dass der Beitrag von Wischmeyer zwar bei den »Berufsprofilen« eingeordnet ist, aber im Kontext der »Orte« erläutert wird – ein Indiz, dass die Begriffe des Untertitels nicht ganz trennscharf sind) und die Herausgeber verorten den Band in der Forschungsgeschichte des Arbeitskreises, dann als Studien zur Praxis der Religionspädagogik, nachdem die »Genese der Disziplin« (7) bereits in früheren Bänden geklärt wurde. Der Band selbst ist nach den Begriffen des Untertitels als »Leitperspektiven« deklariert, in vier Teile mit je vier (unterschiedlich ausführlichen) Abhandlungen gegliedert, konzentriert auf »Argumente, Narrative und Institutionen« und in gedruckten wie archivalischen Quellen gut abgestützt (nur ab und an sind Literaturhinweise nicht korrekt). Die Herausgeber verweisen schon darauf, dass die meisten Analysen als »Fallstudien« gearbeitet sind, deshalb zwar eine nicht selten überraschende Varianz der Praxen belegen, aber auch die Frage der Generalisierbarkeit aufwerfen, ohne sie zu lösen.

Die »Spannungsfelder« werden zwischen »Nationen und Konfessionen« im 19. Jh. gesucht. Der erste Text (G. Estermann) verdeutlicht das, vom knapp eingeführten deutschen »Kulturkampf« aus, am Beispiel der katholischen Pädagogik in der Schweiz und ihrer Suche nach einer »Systematik der katholischen Pädagogik«. So ertragreich diese Studie ist, so wenig überzeugt die nächste (R. Schelander), die für Österreich den zwischen den Lagern und Konfessionen schwankenden Außenseiter Theodor Vernalekens dem Vergessen entreißen will, der allerdings erst in seinen Texten als Pensionär – und deshalb vielleicht nicht zufällig in der Forschung ignoriert – überkonfessionelle Pädagogik als Thema entdeckt hat. Antje Roggenkamp, Mitherausgeberin, nimmt den komparativen Anspruch systematisch auf, indem sie für Frankreich, die Schweiz und Deutschland die Varianz der »transnationalen Bildungsräume« thematisiert, »praxistheoretisch« orientiert und an Aushandlungsprozessen über die Rolle von Religion in Verfassung und Schule interessiert. Aber angesichts der Fülle der Probleme im langen 19. Jh. ist die Studie einfach zu knapp, sie blendet zu viel aus, z. B. Praktiken des Kulturkampfes in Deutschland und damit z. B. die katholische (Religions-)Pädagogik und ihr Sozialmilieu. Ignoriert wird zudem das jüdische Schulwesen und auch die laizistische Realität in Frankreich und ihre Konflikte kommen nicht angemessen vor, so wenig wie die Folgen von Zentralismus und/oder Föderalismus in der Schweiz oder in Deutschland – weniger wäre mehr gewesen. Geert Franzenburg zeigt, wieder kasuistisch, wie in Livland »zwischen Glücksgöttin und Siegesgott« lettische, rus-sische und deutsche Traditionen ihren zugleich religiösen wie traditionalen und nationalen Anspruch zur Geltung bringen wollen.

Die »Orte«, zweite Referenz, sind auf Religionsunterricht konzentriert, schulisch also, jedenfalls nicht so breit, wie z. B. Markschies/Wolf (2010) die »Erinnerungsorte des Christentums« präsentiert haben. Jetzt geht es für den Wandel vom 17. zum 18. Jh. lokal und gymnasial, didaktisch und methodisch zuerst zum Archigymnasium in Soest (A. Baimann), dann »konfessionsübergreifend« in die Epoche der Aufklärung und zu bisher wenig beachteten Akteuren, Johann Feder und Joseph Abs (A. Kubik), wozu man parallel den Beitrag von Overhoff im vierten Block lesen kann. Danach ist die staatlich-kirchliche Schulaufsicht in Kurhessen in ihrer Praxis Thema, die sich als kooperativ auch gegenüber jüdischen Schulen erweist (M. Lapp), wie, ohne Generalisierungsambition, diese erhellende Fallstudie zeigt. Produktiv ist auch der Blick auf die Praxis jüdischer höherer Schulen in Frankfurt am Main und deren Aushandlungsprozesse zwischen Schule und Staat, auf der Basis von Jahresberichten bzw. Schulprogrammen belegt (V. Gräbe/M. Werm- ke) – sehr aussagekräftige Quellen auch hier. Für die »Medien« wird zwar ein Blick auf Material jenseits der viel genutzten Schulbücher angekündigt, es geht dann aber doch um Katechismen und ihren Wandel im katholischen Erzbistum Mainz (W. Simon), um die langwierige Ausdifferenzierung von Katechismus und Lesefibeln (W. Sroka), um die zunehmend starke Rolle der Kirchengeschichte für den Religionsunterricht (H. Dam) sowie, wirklich beachtenswert in der Perspektive, um die missionarischen Ambitionen gegenüber den »Heidenkindern« und die kulturalistischen und rassistischen Verirrungen solcher Praktiken (S. Dixius). »Berufsprofile« bilden den Abschluss, erläutert an der Erweiterung professioneller Ansprüche auf Kleinkindererziehung in Th. Fliedners Kaiserswerther Anstalten (N. Friedrich), für die politischen und innerkirchlichen Querelen über die Religionspädagogik zwischen Schule und Sozialmilieus, vereinsbasierten Sonntagsschulen und kirchlicher Pädagogik in Württemberg (J. Wischmeyer), für die langwierige, am Beispiel Leipzigs bis 1940 belegte Debatte über Funktion und Status, Konkurrenz und Kooperation von Kantor und Pädagoge, Kirche und Schule, Musik und Lehre (D. Käbisch).

Schließlich resümiert Jürgen Overhoff seine jahrelangen Studien über Basedows Ansichten einer interkonfessionellen Religion und ihren nationalen und internationalen Kontext im 18. Jh. Die Herausgeber verstehen diesen Beitrag als »Synthese«, weil er als Plädoyer für »freie Religion« die Traditionen seit Basedow, Salzmann und bis zu Diesterweg erneuert, die bekanntlich nicht »Kirchenlehre«, sondern »Pädagogik«, so Diesterweg, als Focus ihrer Arbeit sahen. Zwei »Miszellen«, von Nachwuchswissenschaftlern beigesteuert, bilden – mit eigenen Themen – den Schluss. Die erste gilt Paolo Freire (B. Ahme) und seinen Kontakten zur Ökumene und zur Religionspädagogik während seines europäischen Exils; sie liefert einen so überraschenden wie erhellenden Blick auf den Pädagogen der Unterdrückten. Die andere Miszelle diskutiert den Wandel des Ehrenamts (A.-S. Markert) als eine fortbestehend bedeutsame Praxis neben der professionalisierten Pädagogik.

Rückblickend wird man die von der Tagung gesetzten Grenzen bestätigt finden, man sieht auch die Ambition, den Anschluss an neue Perspektiven der Historiographie zu finden, ohne dass die notwendige Kontextualisierung von Praktiken und Reflexionen oder die Frage nach ihren Wirkungen in den Fallstudien hinreichend gelingt. Schließlich, von »Bildung«, also von Prozessen der Selbstkonstruktion von Subjekten angesichts je konkreter Welten, ist so gut wie nicht die Rede, weder analytisch noch in den genutzten Quellen. Es geht um professionell gestaltete Erziehung, ein ehrenwertes Geschäft, aber es bleibt pädagogischer Zugriff auf die Subjekte, deren eigene religiöse Bildung nicht Thema wird.