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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

380-382

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Grassl, Fabian F., Seubert, Harald, u. von Wachter, Daniel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Ist Theologie eine Wissenschaft?

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 192 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374072439.

Rezensent:

Patrick Ebert

Die zentrale Frage dieses Bandes trifft in der Tat »ins Herz des Selbstverständnisses der Theologie« (13) – die Wissenschaftlichkeit der Theologie oder der Status der Theologie als Wissenschaft. Der Band, der auf ein 2019 an der Theologischen Fakultät Basel gehaltenes Kolloquium zurückgeht und durch drei Beiträge erweitert wurde, nimmt Sven Grosses Veröffentlichung von 2019 »Theologie und Wissenschaftstheorie«, die im Band in Form von sieben Thesen wiederzufinden ist (11 f.), zum Anlass, diese zentrale Frage zu diskutieren.

Harald Seubert »Ist Theologie eine Wissenschaft? Grundsätzliche Überlegungen im Anschluss an Sven Grosse« (13–36) geht entlang der »Tektonik und den zentralen Auffassungen« (17) Grosses Verständnis von Theologie als fides quaerens intellectum, seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles und Heinrich Scholz (17–24) und seiner Verortung der Theologie im Gesamtsystem der Wissenschaften sowie der Bestimmung von Theologie als Weisheit und so als Gesamtwissenschaft nach (24–28). S. würdigt dabei besonders Grosses Rückgang über die gebräuchlichen Wissenschafts- theoretiker hinaus auf Scholz über Thomas zur klassisch deutschen Philosophie, seine Überlegungen zur Metatheorie der Theologie und zur Theologie als Metawissenschaft sowie die Gedanken zur Schriftgebundenheit der Theologie (32–36). Kritisch sieht er jedoch dessen These zur Vollendung der Philosophie durch und in Theologie und plädiert für die Gleichstellung beider Wissenschaften als Grundwissenschaft (34 f.).

Daniel von Wachter stellt die Frage »Wie die Theologie eine Wissenschaft sein kann« (37–60), wobei er Wissenschaft als »das Projekt, gründlich und systematisch nach Wahrheit über möglichst viele Gegenstände zu suchen« (37) bestimmt und Gott als Gegenstand und Offenbarung als Erkenntnismethode darunterfielen. Begründet wird dies in vier Schritten: 1. wird Theologie definiert als korrelierendes Verhältnis von natürlicher (Philosophie) und Offenbarungstheologie (Offenbarung als notwendige Ergänzung zur Vernunft) (37–42). 2. brauche die Theologie die Philosophie, da natürliche Theologie für die Erkenntnis der Offenbarung notwendig sei (44). 3. und 4. sei die Notwendigkeit des Ausschlusses von Offenbarung aus wissenschaftlicher Betrachtung (51–53), wie auch des Ausschlusses der Möglichkeit von göttlichen Eingriffen aus der Theologie als Wissenschaft widerlegbar (53–59).

Ähnlich widmet sich Holm Tetens »Unerklärlicher Erfolg? Der Realitätsbezug der Wissenschaften und der methodische Atheismus« (61–76) der Frage der Wissenschaftlichkeit Systematischer Theologie (61). Sie wird als »das vernünftige Nachdenken über Gott und damit auch über den Gottesgedanken und den Gottesglauben« (62) definiert, was durch die Prinzipien der Widerspruchsfreiheit, Konsequenz, Falsifikation und adäquaten Begriffsbildung bestimmt wird (62). Theologie gehe so als vernünftiges Nachdenken über Gott als alles bestimmende Wirklichkeit mit theologischen Aussagen genauso um, wie Wissenschaft mit Aussagen umgehe, weshalb sie als solche zu bezeichnen sei (66–69). Hierin ließe sich ebenfalls der Erfolg und die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Atheismus erklären, da Gott in seinem Schöpfungswillen die Welt so eingerichtet habe, dass Menschen sich Teile der Wirklichkeit frei und verantwortlich ohne Rückgriff auf Gott erklären könnten (70–76).

Die Sachlage wird schließlich verkompliziert von Ingolf U. Dalferth »Mehr als eine Wissenschaft. Von den Schwierigkeiten, Theologie auf einen Nenner zu bringen« (77–98), der fragt, was es bedeute, etwas als Wissenschaft zu verstehen, was unter Theologie zu verstehen sei und wie die Frage heute zu beantworten sei. So weist D. die generelle Wandelbarkeit des Verständnisses von Wissenschaft und Theologie auf (77–83) und unterbreitet eine eigene Interpretation in der Bestimmung von evangelischer Theologie als Kunst des Unterscheidens und so als lebensorientierendes Unterscheiden zwischen Glaube und Unglaube, das über Wissenschaft hinausgehe (84). Diese Unterscheidung sei nicht aus der Erfahrung ableitbar, sondern trete in der Begegnung mit dem Evangelium in Erscheinung (88). Theologie sei so Lebenspraxis, die zeigt, dass man von lebendiger Erfahrung betroffen sei, aus der heraus man tätig werde (90). Evangelische Theologie expliziere nun verschiedene orientierende Unterscheidungen des Glaubens (92–96) mit eigenen Begrifflichkeiten und Kriterien, was ihre eigene Wissenschaftlichkeit ausmache (92), wobei sie unabhängig von anderen Wissenschaften sich dieser bediene – immer aber vor dem Hintergrund der Kriterien des Evangeliums (97 f.).

Nach Benedikt P. Göcke »Theologie als regina scientiae« (99–118) müsse Theologie wiederum ihrem Anspruch nach als Königin der Wissenschaften aufgefasst werden, wolle sie »bedeutungsvoller Gesprächspartner der Philosophie und übrigen Geistes- und Naturwissenschaften sein« (99). Theologie sei weder Kulturwissenschaft noch Hermeneutik, noch empirische Wissenschaft oder Philosophie, und zeichne sich stattdessen dadurch aus, dass einige ihrer substantiellen Erkenntnisse durch Gott offenbart worden seien (101–108) und Theologie so, da sie Wissenschaft vom letzten Grund der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen in ihr sei, Metaphysik und Ethik wären (109–113). Als eine solche Wissenschaft vom letzten Grund müsse Theologie ihrem Anspruch nach Königin der Wissenschaft sein und stelle den wissenschaftstheoretischen Ort der Synthese der Vielheit wissenschaftlicher Erkenntnisse dar (117).

Christoph Mocker »Unfehlbare Gewissheit in der Theologie?« (119–137) widmet sich fokussiert dem Phänomen der Gewissheit in der Theologie als Wissenschaft und beschreibt ausgehend von der Unterscheidung in fallible und infallible Gewissheit (120–122) die Grenzen infallibler Gewissheit hinsichtlich des Wissens um Welt (126–131). Der sich für die Wissenschaft demnach ergebende Verzicht auf infallible Gewissheit liege auch der Theologie als Wissenschaft zugrunde, wobei jedoch vor dem Hintergrund der Trennung von Glaube und weisheitlicher Theologie auf der einen und Theologie als Wissenschaft auf der anderen Seite der Gewissheitsbegriff innerhalb des Selbstverständnisses des christlichen Glaubens nicht bedroht sei (132–137).

Eine ebenfalls spezialisierte Fragestellung hat Dominikus Kraschl »Zuarbeiterin, Grenzgängerin, Überläuferin? Zur Rolle der Philosophie an theologischen Fakultäten« (139–159), der die enzyklopädische Frage nach der Rolle der Philosophie innerhalb der Theologie stellt. Nach einer Begriffsbestimmung von Philosophie als »das systematische, methodengeleitete Bemühen, philosophische Fragen und Probleme zu klären« (143) und einer kritischen Diskussion zu Spezifizierungsvorschlägen von christlicher Philosophie (143–146), erarbeitet K. einen eigenen »Explikationsversuch des Ausdrucks christlicher Philosophie« (141) als »systematische Bemühungen, philosophische Fragen und Probleme der christlichen Weltanschauung mithilfe geeigneter Methoden zu klären« (150), wobei die christliche Weltanschauung Erkenntnisgegenstand, -ziel und -grundlage sei. K. konstatiert dabei, dass ein derartiges Verständnis von christlicher Philosophie als Zuarbeiterin, Grenzgängerin und Überläuferin nicht mehr trennscharf von Systematischer Theologie abzugrenzen sei (158 f.).

Den Abschluss bildet Fabian R. Grassl »Glaube und Wissen. Martin Kählers kerygmatische Verhältnisbestimmung als neuprotestantisches Problem« (161–187), der nach der Verhältnisbestimmung von notitia, assensus und fiducia als Elementen des Glaubens fragt. Nach einem historischen Einblick in die Behandlung der Frage (162 f.) geht G. kritisch auf die liberaltheologischen Herausforderungen der Aufweichung und Intellektualisierung in dieser Frage ein (164–168), um dann die kerygmatische Antwort darauf bei Kähler, Bultmann und Thielicke (168–177) in den Blick zu nehmen. Auch diese kritisiert G. jedoch hinsichtlich ihrer alleinigen Fokussierung auf den fiduzialen Aspekt und das Ausblenden der Epistemologie des Glaubens und plädiert mit Pannenberg für die erneute Verbindung der drei Elemente, da keines ohne die anderen bestehen könne (182–185), und so für die theologische Notwendigkeit philosophischen Nachdenkens (161.187).

Ein Durchgang durch die Beiträge lässt den Leser mit mindes-tens drei Eindrücken zurück. Zum einen zeigt sich, dass die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie, bzw. ob Theologie eine Wissenschaft sei, besonders auf Seiten analytisch verfahrender Theologie emphatisch bejaht wird und zugleich die Bedeutung der Philosophie als gleichberechtigte Partnerin, wenn nicht sogar als für die Theologie – und dezidiert nicht nur methodisch – notwendig erachtete Disziplin betont wird. Zugleich zeigt sich jedoch, dass gerade diese Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie mitnichten selbstverständlich und geklärt ist und hier verschiedene Verhältnisbestimmungen gegeneinanderstehen, die weiterer Diskussion bedürfen. Schließlich zeigt sich, dass man auch an der Wissenschaftlichkeit der Theologie festhalten und sie gleichzeitig über die Wissenschaften als Weisheit oder Lebensorientierungskunst erheben kann. Ob Theologie so aber nicht auf andere Art und Weise mit anderen Formen von Lebensorientierungskunst in Konkurrenz tritt und ob nicht auch andere Wissenschaften sich zu solchen Lebensorientierungskünsten herausbilden können, ist damit noch nicht beantwortet – und somit kehrt die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Wissenschaften als möglichen Lebensorientierungs- künsten wieder und sucht auch diese Lösung heim. Ist Theologie also eine Wissenschaft? Sogar mehr als eine Wissenschaft? Der Band bietet Antwortmöglichkeiten – vor allem aber die Erkenntnis, dass diese Frage auch hier noch nicht letztgültig beantwortet ist.