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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

362-363

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brüggenthies, Raphaela

Titel/Untertitel:

»Heilge Schwelle«. Der frühe Heine – ein jüdisch-christliches Itinerarum.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2022. 464 S. m. 2 Abb. u. 1 Kt. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783835351752.

Rezensent:

Renate Stauf

Die mit dem »Kulturpreis Bayern 2021« ausgezeichnete Promotionsschrift von Raphaela Brüggenthies bewertet Heines Übertritt zum Christentum neu. Sie zeichnet wichtige Stationen seines Frühwerks nach, geht der Frage nach Heines religiöser Identität und Zugehörigkeit auf den Grund und arbeitet in drei Großkapiteln die prägende Bedeutung des Konversationsthemas detailliert und kenntnisreich heraus. Dabei liegt der Schwerpunkt auf einem biographischen Ansatz, der den Konvertiten als Vaganten zwischen der jüdischen und christlichen Glaubens- und Lebenswelt zeigt, seinen Status als Paria beider religiöser Milieus sichtbar macht und eindrücklich nachweist, wie Heine die Unlösbarkeit der religiösen Identitätsfrage zur Existenz- und Kunstform erhebt, gleichsam zu einem »Seismografen auf der Schwelle« wird, der diese Schwellensituation für seinen innovativen Umgang mit historischen Stoffen und literarischen Formen als nahezu unerschöpfliche Inspirationsquelle nutzt.

Das erste Kapitel Tragödie einer utopischen Projektion rekonstruiert diesen innovativen Umgang anhand des dramatischen Erstlingswerks Almansor vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Ereignisse, Begegnungen und Konflikte. Das Hauptergebnis ist wenig überraschend. Heine spiegelt seine unglückliche Jugendliebe zu seiner Hamburger Cousine und die deutsch-jüdische Misere der Gesellschaft im muslimisch-christlichen Konflikt des Dramas, worauf vor allem schon Jochanan Trilse-Finkelstein in seiner, B. leider entgangenen Heine-Biographie von 2001 nachdrücklich verweist (Heinrich Heine. Gelebter Widerspruch). Ebenso wenig wie die Geschichte von Almansor und Zuleima thematisiert die Geschichte des Rabbi von Bacherach zufällig das Spanien des 15. Jh.s, eine Zeit der Hochblüte der mittelalterlichen jüdischen Kultur. »Hier entstanden die großen Themen und Stoffe, hier wurden sie im Miteinander von Islam und Judentum, Arabern und Judenheit im konfliktreichen Verhältnis zu den Christen durchdacht, geprägt, erprobt und aufgeschrieben.« (Trilse-Finkelstein, 78) B.’ originelles Verdienst ist die erhellende Verknüpfung der komplexen Werk-Chronologie des Dramas und seiner Vorlagen (das biblische Hohelied wird hier erstmals als eine solche erkannt) mit Lebenszeugnissen, unter denen Heines intensive Wahrnehmung der Berliner Salonkultur (Elise von Hohenhausen, 1789−1833, Rahel Varnhagen von Ense, 1771−1833) sowie sein umfangreicher Briefwechsel hervorstechen. Vor diesem Hintergrund erst erschließt sich, in welchem Maße die Almansor-Tragödie für den jungen Dichter eine Probebühne ist, auf der er die Assimilationsproblematik virtuos durchspielt, wie auch die Unlösbarkeit seiner eigenen Grenzerfahrungen »literarisch figuriert« und »biographisch präludiert«. Die antichristliche Polemik, die sich durch das Stück zieht, wird konterkariert durch die Figur des zwangsgetauften Muslims Aly, dessen gloriose Revolutionsutopie als Traum von einer glücklicheren Zukunft über die Handlung hinaus auf Heines politische Hoffnungen verweist.

Im zweiten Kapitel Kryptogramm einer verfehlten Konversion stellt B. das Romanfragment Der Rabbi von Bacherach ins Zentrum einer »jüdischen Unheilsgeschichte« und interpretiert es im Kontext von Heines Polenreise und seinem ambivalenten Verhältnis zur deutschen Romantik als »Gegengeschichte zur biblischen Heilsgeschichte«, sozusagen als »Romantik gegen den Strom«. Einlässliche Darlegungen erweisen das am Anfang des Romans aufleuchtende Zusammenfließen von regionaler Sagentradition und jiddischen Erzählungen zu einer deutsch-jüdischen Rheinromantik als Chimäre. Exzellente Figuren-, Situations- und Ortsanalysen zeigen die vielfach nicht gesehene innere Einheit des Textes auf und widerlegen die häufig vertretene These seines Zerfalls in zwei miteinander nur lose verbundene Teile. Heine vollendet und veröffentlicht den 1824 begonnenen Rabbi vor dem Hintergrund der politische Wellen schlagenden Damaskus-Affäre erst im Ok-tober 1840.

Trotz dieser gravierenden Unterbrechung des Schreibprozes- ses und ungeachtet formaler und gattungsbezogener Unterschie- de in der früheren und späteren Fassung zieht sich ein Strang motivischer Kontinuität durch beide Teile der Erzählung. Die scheinbare Verantwortungslosigkeit des gebildeten Rabbi Abra- ham, der im ersten Teil um der eigenen Rettung willen seine Gemeinde im Stich lässt, und die tragikomische Situation des zweiten Teils mit den in gallebitterer Komik agierenden Judenfiguren am Tor des Ghettos und in der Synagoge legen gleichermaßen Zeugnis ab von einer durch »Narrheit und Furcht« bestimmten jüdischen Tradition, die als das »traurige Resultat einer endlosen Exils- und Passionsgeschichte« zu verstehen ist. Dieser Deutung entsprechen auch Heines Selbstaussagen. Seine Taufe im Juli 1825 ändert nichts daran, dass er, wie schon Klaus Briegleb feststellt, ein neuzeitlicher Marrane ist, der im Herzen immer Jude bleibt (Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine, jüdischer Schriftsteller in der Moderne, 1997). Die Konversion befördert im Gegenteil eine vertiefte Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft:

»[…] mit unsäglicher Liebe trage ich das ganze Werk in der Brust«, schreibt er im Oktober 1824 an seinen Jugendfreund Moser über dasRabbi-Projekt, »wenn ich der Stimme der äußern Klugheit Gehör geben wollte, so würde ich es gar nicht schreiben. Ich sehe voraus, wieviel ich dadurch verschütte und Feindseliges herbeirufe. Aber eben weil es aus der Liebe hervorgeht, wird es ein unsterbliches Buch werden, eine ewige Lampe im Dome Gottes, kein verprasselndes Theaterstück.« (193)

B. bezweifelt abschließend zu Recht den von Heine selbst behaupteten Fragmentcharakter des Rabbi. Ihre Vermutung eines Abbruchs aus poetologischen Gründen überzeugt indes nicht. Ist das »fragile Erzählkonzept zwischen Bekenntnisschrift und Historie, zwischen Tragik und Komik, zwischen Schrecklichem und Lächerlichem« doch nicht, wie B. annimmt, Ausdruck eines an formalen Gattungsgrenzen schließlich gescheiterten Unternehmens. Vielmehr ist dieses unbekümmerte Vermischen von Gattungsmerkmalen beim Ausbalancieren wechselnder Stimmungen geradezu charakteristisch für Heines innovativen und modernen Schreib-stil.

Im dritten Kapitel Itinerar einer befreienden Evasion interpretiert B. Heines Harzreise als vergeblichen persönlichen und literarischen Befreiungsversuch aus dem »Bannkreis des Judentums«. Dass es bei diesem »Exodus aus dem Judenschmerz in die romantische Landschaft« um mehr geht als um »Landschaftsbeschreibung und Naturbetrachtung«, ist indes spätestens seit Norbert Altenhofers brillanter Untersuchung der esoterischen Schreibweise und des Palimpsest-Verfahrens (Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine, 1993) Konsens in der Heine-Forschung. B.’ Deutung der komplexen Chiffren auf der Basis einer umfassenden kultur-, literatur- und lebensgeschichtlichen Kontextualisierung fördert daher nichts grundsätzlich Neues zutage, bereichert aber die Lektüre um viele neue und interessante Details.

Insgesamt sei die Arbeit allen Leserinnen und Lesern empfohlen, die sich ein differenziertes Bild von den existentiellen Befindlichkeiten des jungen Heine und von seinem Frühwerk machen möchten und dabei das Nachverfolgen oftmals sehr verschlungener Pfade nicht scheuen.