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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

351-353

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kraus, Wolfgang, Tilly, Michael, u. Axel Töllner [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Das Neue Testament – jüdisch erklärt. Lutherübersetzung.

Verlag:

Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2021. 984 S. Geb. EUR 53,00. ISBN 9783438033840.

Rezensent:

Klaus Müller

Erster Kontext der Kirche ist das Judentum. Ein Spiegelbild jener tiefgreifenden Verbindung der ökumenischen Christenheit mit dem Judentum ist die bleibende Relevanz der Hebräischen Bibel mitsamt der jüdischen Schriftauslegung für das Verständnis auch des Neuen Testaments und das Selbstverständnis der Kirche überhaupt. Die Jesusüberlieferung im Neuen Testament atmet und lebt im Horizont der jüdischen Tradition mit der Hebräischen Bibel in ihrer Mitte. Die ersten Zeuginnen und Zeugen des Christusgeschehens haben Person und Werk ihres Meisters entscheidend in den Begriffen und Kategorien der Hebräischen Bibel beschrieben – ob in hebräischer, aramäischer oder griechischer Gestalt. Was »nach den Schriften« geschehen ist (1Kor 15), braucht neben und mit sich gleichursprünglich jene Schriften, um erzählen zu können, was geschehen ist. Das Geschehene findet überhaupt nur Sprache in jenen Schriften. Die christliche Kirche hat die Bibel des Judentums in ihre Heilige Schrift aufgenommen. In der Geschichte der Religionen ein einmaliger Vorgang. Ungeachtet einer letzten Entscheidung über Asymmetrien im christlichen Verhältnis zum Alten und zum Neuen Testament bleibt festzuhalten: Die kanonische Geltung beider Teile der christlichen Bibel ist ein Spiegelbild der bleibenden Geltung der Erwählung des Gottesvolkes Israel und der Kirche Jesu Christi.

»Das Neue Testament – jüdisch erklärt« dokumentiert in herausragender und schlechterdings fundamentaler Weise jene Grundeinsicht in die bleibende Verbundenheit christlicher Theologie und Praxis mit dem Judentum. Auch und gerade das Bibellesen wird sich Christen nur im Wahrnehmen der christlich-jüdischen Beziehungen vollziehen können. Überall in der weltweiten Ökumene, in welcher Sprache auch immer.

Bereits im Jahre 2011 erschien in den USA das »Jewish Annotated New Testament«. Herausgegeben von Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler lag hiermit eine erste umfassende Kommentierung des Neuen Testaments jüdischer Provenienz vor – ein Meilenstein sowohl für die kontextuelle neutestamentliche Forschung als auch für die christlich-jüdische Beziehungsarbeit überhaupt. Zeigt es doch Christen die tiefe Verankerung »ihres« Neuen Testaments in der jüdischen Tradition und verhilft gleichzeitig Jüdinnen und Juden zu einer neuen – eben jüdischen – Perspektive auf den zweiten Teil der christlichen Bibel. Bereits in der englischen Ausgabe sind die Anmerkungen zu den neutestamentlichen Büchern ergänzt durch fundierte Essays zu Schlüsselthemen für das Verständnis des Textes und seiner Kontexte. Spätestens mit dem Erscheinen der zweiten Auflage des englischen Textes im Jahres 2016 wurde sinnfällig, in welch hohem Maße das Unternehmen einer jüdischen Kommentierung des Neuen Testaments den Nerv und die Erwartung vieler Engagierter traf. Ein nicht zu überschätzendes Verdienst kommt dem Herausgeberteam Wolfgang Kraus, Michael Tilly und Axel Töllner zu, die Ausgabe in deutscher Sprache übernommen zu haben. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Bibelgesellschaft liegt nun mit »Das Neue Testament – jüdisch erklärt« eine deutsche Übertragung dieses epochalen Werkes vor, präzise und kundig im Detail, erhellend und richtungsweisend auf dem weiten Weg der Wahrnehmung der Bibel im Angesicht des Judentums.

Es ist ein Studien- und Hilfsbuch entstanden, das einzigartig dasteht innerhalb der theologischen Literatur. Quellenorientierter Bibelkommentar und thematische Vertiefung relevanter Topoi charakterisieren diese Ausgabe. Den neutestamentlichen Büchern ist jeweils eine knappe Einleitung vorangestellt, der Textbestand gemäß der Lutherübersetzung 2017 ist fortlaufend kommentiert und in historisch-kritisch verlässlicher Weise bezogen auf Quellen aus dem weiten Spektrum jüdischer Tradition. Als besonderen »Service« bietet die Ausgabe in optisch unterlegten »Infoboxen« wertvolle Einsichten zu neuralgischen Einzelthemen, an die sich in der Auslegungsgeschichte manches fatale Fehlurteil geknüpft hat: So finden z. B. bei der Bearbeitung des Matthäusevangeliums die Figur des Judas sowie der berühmt-berüchtigte »Blutschrei« in Mt 27,25 oder auch die paulinische Formel »Christus Ziel der Tora« (Röm 10,4) besondere Beachtung.

Die Sammlung von über 50 Essays im letzten Drittel des Werkes liest sich wie ein Kaleidoskop zentral wichtiger Erwägungen im christlich-jüdischen Horizont. Auf dem Niveau aktueller historisch-judaistischer Forschung werden Fragen zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen behandelt, werden die religiösen Strömungen, Glaubens-praktiken beleuchtet sowie die Vielfalt literarischer Tradition im Judentum in den Blick genommen. All dies ein kostbarer Schatz und reiche Fundgrube für christliches Lernen in judaicis. Überkommene Fehlurteile zurechtzurücken durch profunde Information motiviert die jüdischen Autorinnen und Autoren im Essayteil – dafür steht z. B. der Beitrag von Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler mit dem Titel »Verbreitete Irrtümer über das antike Judentum«. Nicht zu überhören ist in zahlreichen Essays die Absicht des Werkes – und das macht seinen besonderen Reiz aus −, auch in jüdischen Ohren sozusagen Offenheit und Verständnis zu wecken für die neutestamentliche Überlieferung und damit – so z. B. das Essay von Jacob Neusner – »Überlegungen aus jüdischer Sicht zum christlichen Selbstverständnis« anzubieten. Unprätentiös und im präzisen Sinne absichtslos wird »Eigenes« benannt und »Anderes« anerkannt. So wird dieses fulminante Buch zu einem Zeugnis gelingenden Dialogs in Respekt und gegenseitiger Achtung.

»Das Neue Testament jüdisch erklärt« zeigt sich als hervorragendes Exempel tiefgehender Schriftgelehrsamkeit ebenso wie als Frucht persönlichen Austauschs im christlich-jüdischen Gespräch. Dieses Buch macht Mut. Es öffnet Wege zum weiteren Entdecken und zum tieferen Verständnis – auf allen Ebenen ein Vademecum für die zukünftige christlich-jüdische Begegnungsgeschichte.