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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

338-340

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fischer, Irmtraud

Titel/Untertitel:

Liebe, Laster, Lust und Leiden. Sexualität im Alten Testament.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 176 S. = Theologische Interventionen, 5. Kart. EUR 19,00. ISBN 9783170370265.

Rezensent:

Uta Schmidt

Mit diesem Band verfolgt Irmtraud Fischer das Ziel, das Themenfeld der Sexualität und Erotik mit seiner großen Bedeutung im Alten Testament aufzuzeigen. Die Vfn. nimmt die Gegenwart als Ausgangspunkt und setzt als katholische Theologin einen Rahmen für ihre Arbeit: »Die verheerenden Missbrauchsfälle, die […] die Katholische Kirche erschüttern, zeigen kontinuierlich die verheerenden Folgen der Tabuisierung von Sexualität.« (9) Mit dem vorliegenden Band setzt die Vfn. dagegen eine Darstellung, die zeigt, wie vielfältig Sexualität und Erotik in fast allen Bereichen des Alten Testaments thematisiert werden.

Am Anfang steht ihr Anliegen, Sprachfähigkeit im Themenfeld Sexualität zu fördern (Kap. I). Dafür zeigt die Vfn. einführend verschiedene Formen von Diskriminierung und Verfolgung aufgrund des Geschlechts in der Gegenwart auf, die eine Analyse von Geschlechterkonstruktionen dringend nötig machen. Es folgen einführende Überlegungen zur Perspektive der Texte (Wer spricht bzw. schreibt?), zum Vokabular und zu ikonographischen Quellen sowie abschließend hermeneutischen Überlegungen, wie die Ergebnisse aus dieser Untersuchung zu den eingangs genannten Problemfeldern der Gegenwart in Beziehung gesetzt werden können.

In acht Kapiteln stellt die Vfn. den Befund des Alten Testaments zu unterschiedlichen Aspekten des Themenfeldes Sexualität dar, oft erzählend, immer mit kritischem Blick auf Gender-Dimensionen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der sozialgeschichtlichen Verortung und Erhellung der Texte. Auf bekanntere Themen wie »Soziokulturelle Gegebenheiten und rechtliche Regelungen der Sexualität« (Kap. II) oder die Behandlung der »Sexualität als conditio humana in den Schöpfungserzählungen« (Kap. III). folgen überraschende Perspektiven: Den Beitrag des Sprüchebuchs untersucht die Vfn. als »Elternunterweisung als Sexualerziehung und Ehelehre« (Kap. IV). Die Vfn. betont, dass Liebe in der Antike nicht die Grundlage einer Ehe war und zeigt dann auf, wie gelingende und misslingende geschlechtliche Ehe(-Beziehungen) in Texten des Alten Testaments aussehen (Kap. V und VI). Sie entfaltet die positive und im Alten Testament einmalige Darstellung von sexuellem Genuss entlang der menschlichen Sinne im Hld (Kap. VIII) und geht auf das schwierige Thema der »Sexuelle[n] und sexualisierte[n] Gewalt« in Texten des Alten Testaments ein (Kap. IX). In diesem Kapitel behandelt die Vfn. die teils ausgesprochen problematischen, ja schrecklichen Texte und Themen (Ri 19; Ez 16 und 23; Inzest; sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, sexualisierte Kriegsgewalt) gut nachvollziehbar und bezieht klar Position für die Opfer und die Wehrlosen in den Texten. Diese Auseinandersetzung führt sie dann im Hinblick auf »Eros und Sexus in der Gottesmetaphorik« weiter (Kap. X) mit der Problemanzeige, dass durch solche Texte sexualisierte Gewalt auch heute noch legitimiert wird (164 f.). Das Schlusswort (Kap. XI.) ist ein Plädoyer dafür, dass Sexualität in unterschiedlichsten Formen ein Leben lang Bedeutung hat – eine Haltung, die die Vfn. in diesem Buch durch das ganze Alte Testament hindurch aufzeigt und die sie deshalb in christlichen, kirchlichen Kontexten zu Unrecht ignoriert und tabuisiert sieht.

Die Stärke der Abhandlung ist, dass sie durchgängig »gender-fair« auslegt (um einen von der Vfn. geprägten Begriff zu verwenden): Sie benennt (seltene) weibliche und (sehr häufige) männliche Sichtweisen in den Texten explizit und macht damit sichtbar, dass das Thema im Alten Testament häufig aus der Sicht freier Männer präsentiert wird. Sie weist auf das hin, was nicht gesagt wird, und gibt somit einen Eindruck von der teils begrenzten Reichweite des Befunds zum Thema. Immer wieder nimmt sie die Perspektive der Frauen und Mädchen ein, die in den Texten nicht repräsentiert ist, indem sie auf der Basis weiterer biblischer Texte sowie außerbiblischer Quellen Vermutungen darüber anstellt, was diese erlebt, gedacht und vielleicht gehofft hätten. Sie weist mehrfach auf die Gefahr anachronistischer Eintragung moderner Geschlechterstereotypen und Denkmuster in die antiken Texte hin, wie z. B. die Vorstellung romantischer Liebe als Basis der Ehe. Dadurch wird sichtbar, wie Sexualität im alten Israel an manchen Punkten deutlich anders als heute gelebt und kommuniziert wurde.

Es ist der Vfn. mit diesem Band gelungen, das Anliegen der Reihe »Theologische Interventionen« zu erfüllen, »in essayistischer Form Akzente in gegenwärtigen lebensweltlichen Diskursen« zu setzen. Trotzdem wäre es auch für Nicht-Fachleute interessant gewesen, häufiger von den Debatten zu erfahren, die hinter einigen Themen stehen, wie z. B. die Deutung der Vfn. von Männlichem und Weiblichem als Merismus, als äußersten Polen einer großen Bandbreite geschlechtlicher Identitäten (47).

Die gut lesbare Darstellung vermittelt einen informativen Überblick über den breiten Befund zum Thema im Alten Testament, den die Vfn. kundig, gender-bewusst und an etlichen Stellen sehr innovativ auslegt.