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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

329-331

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Juhás, Peter, Lapko, Róbert, u. Reinhard Müller [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Theokratie. Exegetische und wirkungsgeschichtliche Ansätze.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. XII, 304 S. m. 6 Abb. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110685848.

Rezensent:

Marcel Krusche

Der von Flavius Josephus geprägte Begriff »Theokratie« (θεοκραθία) bezeichnet im weitesten Sinne eine politische Konzeption, nach der die Herrschaft im menschlichen Bereich eigentlich durch Gott bzw. Götter ausgeübt wird. Wie diese göttliche Herrschaft irdisch vermittelt wird und wie sie sich zu bestehenden menschlichen Herrschaftsformen verhält, ist in der Geschichte sehr unterschiedlich bestimmt worden. Dieser Frage widmet sich der vorliegende Sammelband, der 15 spezialisierte Studien (in deutscher und englischer Sprache) zum theokratischen Denken enthält, dabei den Schwerpunkt auf biblische Texte legt, aber auch Nachbarkulturen der Bibel und die nachbiblische Wirkungsgeschichte (vor allem im ostkirchlichen/slawischen Raum) in den Blick nimmt.

Die Rubrik »Nachbarkulturen der Bibel« eröffnet ein Aufsatz von Peter Dubovský (3–31) über die Idee der göttlichen Herrschaft über die menschliche Geschichte in Quellen aus dem Königreich von Suḫu am mittleren Euphrat, das im 8. Jh. v. Chr. mit assyrischer Fremdherrschaft konfrontiert war. Seine Schreiber verwendeten verschiedene literarische Techniken (z. B. fiktionale Dialoge, Adressierung von Inschriften an Götter), um die Herrschaft der Götter über den Lauf der Geschichte zu propagieren. Filip Coppens (33–61) untersucht, wie die ägyptische Königsideologie auf die Fremdherrschaft in ptolemäischer und römischer Zeit mit einem Nebeneinander von Kontinuität und Diskontinuität reagierte. Alte Ideen göttlicher Herrschaftsübertragung und deren rituelle Inszenierungen lebten weiter, allerdings erfolgte sie nun auf indirektere Weise, was anhand mehrerer Beispiele aus dem Bereich ägyptischer Tempel aufgezeigt wird. Beide Aufsätze sind höchst aufschlussreich mit Blick auf Analogien zu theologischen Konzeptionen politischer Fremdherrschaft im Alten Testament – wobei gerade dieses Thema in den folgenden Aufsätzen nicht im Fokus steht.

Unter den acht exegetischen Studien macht Christoph Levin (65–83) den Aufschlag mit einer Untersuchung zu der theokratischen Idee, dass Israel als Gottesvolk unmittelbar von JHWH regiert werde. Diese Idee zeichnet Levin literatur- und theologiegeschichtlich nach und zeigt auf, wie sie nachexilisch in Form des Gesetzes, der Familienreligion und des Priestertums institutionalisiert wurde. Reettakaisa Sofia Salo (85–99) behandelt die Erwähnungen von Königen in der Priesterschrift (Gen 17,6.16.20; 35,11), die sie allesamt als spätere Nachträge zur Priestergrundschrift erachtet und als Ausdruck von Hoffnungen auf eine Restauration der davidischen Dynastie versteht (was m. E. jedoch aus mehreren Gründen bezweifelt werden kann). Jozef Tiňo (101–113) analysiert das Konzept der Chronik von der davidisch-salomonischen Herrschaft als goldenem Zeitalter. David wird als »Prophet wie Mose« stilisiert und setzt damit die mosaische Mittlerrolle der Theokratie fort. David und Salomo bringen nach der Chronik die Tora zur Vollendung, repräsentieren ganz Israel und haben somit grundlegende Bedeutung für die Geschichte Israels. Als »theokratisch« betrachtet Reinhard Müller (115–149) den Gedanken der Partizipation der Frommen am göttlichen Gericht, wie er in Ps 149,5–9a (als Fortschreibung innerhalb von Ps 149 aufgefasst) zum Ausdruck kommt. Nach ihrer Auferstehung von den Toten vollziehen die Frommen mit dem Schwert das endzeitliche Vergeltungshandeln JHWHs an den Völkern und verwirklichen damit die schriftprophetischen Fremdvölkerworte. Urmas Nõmmik (151–167) untersucht, diachron differenzierend, verschiedene Aspekte theokratischen Denkens im Hiobbuch: zum einen die Sicht auf Herrschende und Mächtige (königliche Theokratie) und zum anderen die Vergeltungslehre, den Niedrigkeitsgedanken und die Schöpfungsidee als Aspekte einer generellen Theokratie. Róbert Lapko (169–177) fokussiert sich auf die Vorstellung der göttlichen Vorsehung als Aspekt göttlicher Herrschaft im Tobitbuch. Seine Vorsehung erweist Gott in der Erhörung von Gebeten, in der Vorherbestimmung von Ereignissen und im Verweben verschiedener Biographien; schließlich wird sein universales Königtum im abschließenden Lobgesang Tobits (Tob 13,1–14,1) gepriesen. Mit Juraj Feník (179–194) erfolgt der Sprung ins Neue Testament, genauer zur Vorstellung der Machtübertragung im Johannesevangelium (von Gott zu Menschen, von Gott zu Jesus und von Jesus zu Menschen). Diese betont die Souveränität Gottes und Jesu sowie die funktionale Gleichheit und Einheit von Vater und Sohn. Beate Kowalski (195–214) arbeitet anhand der Johannesoffenbarung heraus, dass Theokratie als universale und partizipatorische Königsherrschaft Gottes konzipiert sowie ekklesiologisch und eschatologisch ausgerichtet ist. Christus und die erlösten Christen haben daran Anteil, während das Imperium Romanum als schlechte Kopie echter Theokratie eine politisch-theologische Kritik erfährt.

Die letzten fünf Aufsätze bilden die Rubrik »Wirkungsgeschichte biblischer Texte«. Peter Juhás (217–237) geht den Belegen des syrischen Lexems trwnws »Thron« (Lehnwort von griech. θρόνος) in neutestamentlichen und apokalyptischen Schriften nach und stellt dabei in Teilen die Tendenz fest, dass der Thron Gottes von menschlichen Thronen terminologisch unterschieden wird, indem trwnws vorrangig auf den göttlichen bzw. himmlischen Thron bezogen wird. Šimon Marinčák (239–255) stellt die »Ermahnung an Herrscher« vor, die im späten 9. Jh. von einer Delegation des byzantinischen Kaisers an den slavischen Prinzen Rastislav übergeben wurde. Darin werden christliche Herrschaftsprinzipien für das slavische Regierungssystem aufgestellt, die stark in biblischer Tradition stehen und die Orientierung irdischer Königtümer an der göttlichen Ordnung einfordern. Ján Dolný OSB (257–272) präsentiert die theokratischen Ideen des russischen Religionsphilosophen Wladimir S. Solowjow (1853–1900), ordnet sie biographisch und geistesgeschichtlich ein und bestimmt ihr Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche. Solowjow hoffte auf die innergeschichtliche Verwirklichung der Theokratie im Sinne eines ethischen Ideals, das auf religiöser Einheit basiert. In einem zweiten Artikel (273–280) beschreibt der Verfasser die Kritik von Fjodor Dostojewski, der mit Solowjow befreundet war, an dessen Theokratiekonzept, wie sie insbesondere in seiner Legende vom Großinquisitor zum Ausdruck kommt. Dostojewski schwebte eine religiöse Transformation auf individueller statt auf gesellschaftlicher und politischer Ebene vor. Schließlich bietet Peter Olexák (281–293) in einem Durchgang durch 2000 Jahre Kirchengeschichte einen Abriss über die Entwicklungen und Veränderungen im Verhältnis zwischen Kirche und Staat (mit inhaltlichem Schwerpunkt auf der Geschichte des Papsttums im Verhältnis zur weltlichen Macht). Die letzten drei genannten Aufsätze behandeln allerdings nur in einem indirekten Sinn die »Wirkungsgeschichte biblischer Texte«. Ein Bibelstellenregister beschließt den Band.

Eine Stärke des Sammelbandes ist, dass ein großer Facettenreichtum theokratischer Vorstellungen in der Geschichte aufgezeigt wird. Darin steckt jedoch zugleich auch eine Schwäche: Das Verständnis und die Anwendung des Begriffs »Theokratie« auf Seiten der Beiträger ist sehr divers, sodass zu fragen ist, ob er überhaupt als übergeordnete Kategorie für die behandelten Themen geeignet ist. Dadurch, dass die Bandbreite des Begriffs von der Idee göttlichen Eingreifens in die Welt der Menschen über die Vorstellung menschlicher Partizipation am göttlichen Weltgericht oder der endzeitlichen Gottesherrschaft bis hin zum Nachdenken über Prinzipien gottgemäßer Amtsführung reicht (um nur einige Aspekte zu nennen) und sowohl königsfreundliche als auch herrschaftskritische Perspektiven umfasst, bleibt die Überschrift am Ende eher vage.