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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

253–255

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schroth, Michael

Titel/Untertitel:

Freie evangelische Gemeinden. Eine kirchentheoretische Studie im Zusammenhang mit einer empirischen Befragung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 370 S m. Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 100. Geb. ca. EUR 80,00. ISBN 9783525560655.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Dass sich die in Bonn von Eberhard Hauschildt begleitete Dissertation der kirchentheoretischen Untersuchung einer freikirchlichen Denomination widmet, ist schon an sich bemerkenswert. Es ist einerseits Ausdruck davon, dass in der universitären Forschung freikirchliche Gemeinden und deren Praxis vermehrt auf dem Radar sind (nicht zuletzt angeregt durch religionssoziologische Forschungen wie beispielsweise Stolz u. a., Phänomen Freikirchen, 2014; Rezension in ThLZ 2017, 302–304). Und es zeugt andererseits auch von einem zunehmenden Bedarf der Freikirchen nach theoretischer Selbstreflexion im kirchlichen und gesellschaftlichen Horizont, was sich in entsprechenden praktisch-theologischen Forschungsarbeiten niederschlägt (vgl. exemplarisch auch Bartholomä, Freikirche mit Mission, 2019 – Rezension in ThLZ 2020, 460–463; Schweyer, Freikirchliche Gottesdienste, 2020 – Rezension in ThLZ 2021, 1106–1108). So erfolgt auch die Forschungsarbeit des Autors Michael Schroth, der selbst Pastor im Bund Freier evangelischer Gemeinden und inzwischen auch Professor an der denominationseigenen Theologischen Hochschule in Ewersbach ist, aus einer offenen, interessierten, kritischen und konstruktiven Innenperspektive. Solche freikirchlichen Studien tragen daher dazu bei, dass in der Außenwahrnehmung Unkenntnisse und Vorurteile behoben und nach innen die eigene Praxis und das eigene Selbstverständnis kritisch reflektiert werden.

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die Freien evangelischen Gemeinden (FeGn) in Deutschland. Der Bund der Freien evangelischen Gemeinden (BFeG) umfasste 2017 insgesamt 482 Gemeinden mit rund 42000 Mitgliedern (65) und wächst – gegen den gesamtkirchlichen Trend – kontinuierlich, insbesondere durch die Gründung neuer Gemeinden. Der Vf. unterzieht die FeGn einer kirchentheoretischen Analyse, wobei insbesondere das von Hauschildt und Pohl-Patalong entwickelte »Hybrid«-Modell von Bewegung, Organisation und Institution zur Anwendung kommt (vgl. die kirchentheoretischen Klärungen in Kapitel 1, 13–34, sowie Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 2013 – Rezension in ThLZ 2013, 1155–1157).

Im ersten großen Teil der Studie wird die Geschichte der FeGn aus kirchentheoretischer Perspektive nachgezeichnet und analysiert (Teil A, 35–127, Zusammenfassung in Kap. 6, 125–127). Die historische Perspektive (Kap. 2, 37–62) verdeutlicht, dass sich die Kirchenform der FeGn als produktive Aufnahme moderner Mentalitäten verstehen lässt, und dass sich in der Entwicklung ein »Verlauf von der Bewegung über die Organisation bis hin zur Institution« (62) nachzeichnen lässt, dass aber durch die Betonung der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde vor allem die institutionelle Logik relativiert wird. Die gegenwärtige Struktur (Kap. 3, 63–85) wird im Kern durch »überschaubare« Ortsgemeinden (83) getragen, deren Selbstständigkeit betont und in der Verfassung des BFeG verankert ist. Für das Selbstverständnis zentral ist die Auffassung, dass die Gemeinde eine »Gemeinde von Gläubigen« ist (Kap. 4, 86–105). Entsprechend bildet der »persönliche« Glaube das Kriterium für die Gemeindemitgliedschaft. In der religiösen Landschaft der Spätmoderne (Kap. 5, 106–124) zeichnen sich Freikirchen durch ein »besonderes Verhältnis von Konservativität und Modernität« (121) aus, indem traditionelle Werte mit modernen Lebens- und Glaubensformen verbunden werden. Die gruppenförmigen überschaubaren Gemeinschaften, in denen entsprechend dem Priestertum aller Gläubigen die authentische Partizipation am Gemeindeleben gefördert wird, bilden Plausibilitätsstrukturen, die unter spätmodernen Bedingungen eine relative Stabilisierung des Religiösen ermöglichen.

Im zweiten Teil dokumentiert und analysiert der Vf. seine eigene empirisch-quantitative Studie (Teil B, 129–319). Mittels computergestützte Telefoninterviews wurde eine repräsentative Gruppe von 1102 Mitgliedern aus FeGn befragt (148). Als Vergleichsgruppen dienen die Daten der fünften EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, und zwar die Gruppe aller Evangelischen sowie die Gruppe derjenigen Evangelischen, die sich durch eine hohe Kirchenbindung auszeichnen (152–153). Der methodische Zugang erfolgt reflektiert und sachgemäß (Kap. 7, 130–153; vgl. auch die Anhänge mit Fragebogen und Grundauszählung), auch im Bewusstsein um die Begrenzung rein quantitativer Zugänge und um den Bedarf nach einer Erweiterung durch qualitative Forschungen (130–133).

In drei Kapiteln wird detailliert analysiert, wie das Sozialprofil der Gemeindemitglieder aussieht (Kap. 8, 154–166), wie man Gemeindemitglied wird (Kap. 9, 167–194) und was es bedeutet, Gemeindemitglied zu sein (Kap. 10, 195–265). In diesen Kapiteln präsentiert der Vf. jeweils übersichtlich die Daten, oft auch mit Tabellen und Grafiken. Darauf folgen die Interpretationen, die argumentativ auf die Daten bezogen und dadurch schlüssig sind. Mittels einer Faktorenanalayse wird in einem weiteren Kapitel untersucht, inwiefern das kirchentheoretische »Hybrid«-Konzept in den empirischen Daten fassbar wird (Kap. 11, 266–283). Dabei zeigt sich eine empirische Evidenz (281), wobei in FeGn die Organisations- und Gruppenlogik wesentlich bedeutsamer sind als die Logik der Institution (282).

Im Schlusskapitel (Kap. 12, 284–319) bündelt der Vf. die Erkenntnisse. Mit den Stichworten »entschieden« und »partizipativ« werden die typisch freikirchlichen Aspekte des persönlichen Glaubens und des Priestertums aller Gläubigen markiert. Mit zwei zusätzlichen Stichworten regt der Vf. kirchentheoretische Erweiterungen an: »vernetzt« verweist auf die Kirche als Netzwerk von Ortsgemeinden und Gläubigen, »authentisch« auf die Kirche als Ort des Begehrens nach Authentizität. Die Netzwerk- und Authentizitätperspektiven sind zur theoretischen Reflexion (frei)kirchlicher Phänomene gewinnbringend und es erscheint lohnenswert, sie zu vertiefen und in ein kirchentheoretisches Framework zu integrieren.

Ohne im Detail die Studie nachzuzeichnen, soll auf zwei Ergebnisse aufmerksam gemacht werden, die aus Sicht des Rezensenten besonders aufschlussreich sind:

a) Der persönliche Glaube ist in FeGn sowohl für den Erwerb der Mitgliedschaft als auch für das eigene Selbstverständnis zentral. Bei aller Würdigung der subjektiven Dimension des Glaubens kann dabei die Universalität des Glaubens aus den Augen geraten (105; 219). Ob es allerdings gelingt, wie der Vf. als Option darstellt, dass sich die Universalität des Glaubens »jenseits von Lehre und Liturgie« inszenieren lässt, müsste differenzierter reflektiert werden. Auch wenn für den BFeG eine Vereinheitlichung von Lehre und Liturgie keine Lösung sein kann, so scheint dennoch eine Verständigung über den fides quae notwendig zu sein, um die Subjektivität des Glaubens auszubalancieren. Das Konzept einer »großzügigen Orthodoxie« (vgl. Graham Tomlin, Navigating a World of Grace. The Promise of Generous Orthodoxy, 2022) könnte dabei einen Weg weisen, der die Universalität und die Subjektivität des Glaubens integriert. Hier zeigt sich auch die Limitierung einer kirchentheoretischen Studie, die vornehmlich mit soziologischen Kategorien arbeitet. Eine stärkere Integration theologischer Perspektiven wäre dem Gegenstand und der Absicht der Studie angemessen (zu einer solchen Integration vgl. exemplarisch Johannes Zimmermann, Gemeinde, Mission und Transformation, 2020 – Rezension in ThLZ 2021, 230–231).

b) In der Sozialstruktur fallen FeGn-Mitglieder durch einen vergleichsweise hohen Bildungsstand auf. Dieser korreliert mit einer höheren Partizipation am Gemeindeleben und mit einem stärkeren ehrenamtlichen Engagement. Der Vf. fragt aufgrund dieser Beobachtungen, ob durch die freikirchliche Kirchenform nicht Menschen mit niedrigerer Bildung ausgeschlossen werden (165; 253; 287–288) und ob durch die Forderung nach einem persönlichen Glaubensbekenntnis und nach einer aktiven Teilnahme am Gemeindeleben nicht exklusive Strukturen geschaffen werden. In der Tat scheint es eine der zentralen Fragen der Kirche in der Gegenwart zu sein, wie sie gleichzeitig intensiv und offen sein kann, wie sie also starke Glaubensüberzeugungen und hohes Engagement ermöglicht, ohne dass dies als Bedingung einge- fordert wird. Der Vf. regt in diesem Zusammenhang an, die Taufe und deren Verhältnis zur Gemeindemitgliedschaft mehr zu beachten und so dem Glauben als Geschenk der freien Gnade Gottes mehr Ausdruck zu verleihen (317–318). Dem kann man nur zustimmen und es ist zu wünschen, dass diese Anregungen im BFeG (und auch in anderen Freikirchen) aufgenommen und reflektiert werden.