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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

248–250

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Katharina

Titel/Untertitel:

Gesungene Katechese. Kommunikation durch Popularisierung. Kulturelle Repräsentationen eines engagierten protestantischen Christentums im Neuen Geistlichen Lied.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XI, 411 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 11. Geb. EUR 89,00. ISBN 9783161606939.

Rezensent:

Dorothea Haspelmath-Finatti

Mit ihrem Forschungsprojekt zum Neuen Geistlichen Lied, das im Rahmen der DFG-Forschergruppe Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989 entstanden ist, stellt Katharina Herrmann »kulturelle Repräsentationen eines engagierten protestantischen Christentums« als »Gesungene Katechese« vor. Sie gibt mit ihrer hier in geringer Überarbeitung vorliegenden Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2020 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde, Einblicke in ein bisher wenig untersuchtes Phänomen historischer und gegenwärtiger liturgischer Praxis. Schon aus diesem Grunde ist das Buch beachtenswert.

In ihrer Studie geht H. der doppelten Frage nach, in welcher Weise einerseits das Neue Geistliche Lied in Verbindung mit den gleichzeitig entstehenden neuen Gottesdienstformen eine Erneuerung der Kirche angestoßen hat und inwiefern andererseits die Autoren der Lieder und die für die Verbreitung Verantwortlichen (die »Akteure«) eine neue politisch und sozial engagierte Form protestantischer Lebensweise hervorbringen und stärken wollten. Sie konzentriert sich dabei ausdrücklich auf die Texte der Lieder und geht nur an wenigen Stellen auf die musikalische Dimension ein (8). Es geht ihr in erster Linie um die kulturhistorische Perspektive. Darum betrachtet sie den Protestantismus phänomenologisch als eine bestimmte »Mentalität«, zu der die individuelle Verantwortung einzelner evangelischer Christen für gesellschaftliche und politische Fragen gehört (15).

Nach grundlegenden Begriffsklärungen folgt im dreiteiligen Hauptteil des Buches die Auseinandersetzung mit der Entstehung und Etablierung des Neuen Geistlichen Liedes und abschließend die Darstellung des Ertrages des Projekts in Bezug auf den Kontext und die Akteure. Im Anhang findet sich die Auflistung aller Neuen Geistlichen Lieder, die in Kirchentagsliederheften und im Evangelischen Gesangbuch veröffentlicht wurden.

Das erste Kapitel des Hauptteils stellt liturgiegeschichtliche und institutionelle Voraussetzungen für die Entstehung und Verbreitung des Neuen Geistlichen Liedes vor, zu denen die Agendenreform der 1950er Jahre, die Kirchentage und das Frankfurter Seminar für neue Lieder gehören. Das zweite Kapitel widmet sich unter den Stichworten »Aufbruch zur Welt« und »evolutionäre Haltung« der Entwicklungsphase des Neuen Geistlichen Liedes in den Jahren 1960–1972/73, das dritte Kapitel unter dem Stichwort der »Integration« der Konsolidierung dieser Liedform in den Jahren 1972/73–1989. Besonders beachtenswert – auch als Anstoß für weitere Forschungen – erscheint hier die Darstellung der Wechselwirkungen zwischen der Entstehung neuer Gottesdienstformen, Neuer Geistlicher Lieder und der Entwicklung der Liturgie und des Singens bei den Kirchentagen.

In den Projekten der DFG-Forschungsgruppe ging es um den Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland. Damit ergaben sich für die Autorin nicht nur der zeitliche Rahmen ihrer Untersuchung und die Schwerpunktsetzung auf die westdeutschen Kirchen, sondern auch die thematische Fokussierung auf Fragen der Ethik und Moral. So beschreibt sie die in dieser Zeit entstandenen Neuen Geistlichen Lieder als »Medium eines spezifischen Kommunikationsmodus, der eben nicht auf eine differenzierte akademische Debatte […] ausgelegt ist, sondern auf die Vermittlung von theologischen und moralischen Konzepten an die Gemeinde« (5). Es gehe um die »Popularisierung« von Wissen, wobei der Begriff der Popularisierung in diesem Zusammenhang die gezielte Weitergabe von Wissen durch eine kleine Wissenselite an eine größere Gruppe von Rezipienten bedeutet (5). H. schlägt vor, die neuen Lieder als Quelle zu lesen, aus denen sich Rückschlüsse auf die Motivation der Akteure dieser Lieder ziehen ließen. Dabei lasse sich feststellen: Die Verfasser der Neuen Geistlichen Lieder waren von dem Wunsch nach Kirchenreform bewegt. Die Kirche müsse sich den aktuellen Fragen der Welt zuwenden. Den Liedern des EKG mangele es allerdings an aktuellen Themen. Das Neue Geistliche Lied will hier Abhilfe schaffen. Es ist ein Ausdruck der Bemühung um ein zeitgemäßes Wirken der Kirche in der Welt und für die Welt (2).

Durch die Verbreitung des Neuen Geistlichen Liedes werden bestimmte Konzepte christlicher Lebensführung an die Singenden weitergegeben, allerdings, ohne dass diese dazu eingeladen werden, sich selbst mit den Themen der Zeit auseinanderzusetzen. Hier geht es also nicht um Befähigung zu eigenem ethischen Urteilen. Vielmehr zielen die Texte der Lieder darauf ab, die Singenden zu christlichem Handeln im Sinne der Erkenntnisse der Akteure zu bewegen. H. kritisiert diese Tendenzen zur Moralisierung in den Neuen Geistlichen Liedern nicht ausdrücklich. Überhaupt hält sie sich mit eigenen Einschätzungen und Bewertungen zurück. Sie stellt am Schluss ihrer Studie in Bezug auf die Akteure des Neuen Geistlichen Liedes und die Medien ihrer Katechese schlicht fest: »Die Lernmittel […] waren Neue Geistliche Lieder in der Form Neuer Moralischer Lieder.« (362)

Für das Design ihrer Forschungsarbeit hat H. sich auf die Entstehung und Etablierung des Neuen Geistlichen Liedes in den liturgischen Kontexten der Agendenreform und des Deutschen Evangelischen Kirchentages konzentriert. Sie untersucht die Absichten der Akteure und bezeichnet die Funktion der Lieder als »Katechese« mit moralischen Zielsetzungen, als Einführung in die Glaubenspraxis, die das erhoffte zukünftige Verhalten der durch die Katechese Eingewiesenen befördern kann. Die Verbreitung von Liedern soll hier eben nicht nur informieren, sondern zur Veränderung von Verhalten in Richtung einer bestimmten Art christlicher Lebensgestaltung führen.

Weil für diese Studie die Betrachtung des Phänomens Neues Geistliches Lied im Mittelpunkt steht und kritische Anfragen an diese Liedform nicht ausdrücklich zum Forschungsdesign gehören, bleiben einige Fragen offen. Wie steht etwa die beobachtete Moralisierung durch die Akteure im Verhältnis zu dem, was die reformatorische Theologie als ihr zentrales Erbe versteht, nämlich zur Rechtfertigungslehre? Wenn es allein die Gnade Gottes ist, die Menschen zu einem erneuerten Handeln bewegt, wenn »die guten Werke« und nicht der Glaube als Grundlage christlichen Lebens bezeichnet werden – lässt sich dann hier ein gewisser Widerspruch zwischen protestantischer Mentalität und dem reformatorischen Anliegen vermuten?

Eine weitere Frage ist, ob der Blick auf die musikalische Dimension der Lieder nicht auch in kulturhistorischer Perspektive lohnend gewesen wäre, weil Liturgie und Lieder gerade durch die Verbindung von leiblich-emotionalen und geistig-inhaltlichen Dimensionen der conditio humana entsprechen? Gehört es nicht zur Intention der Akteure, ihre Inhalte gerade nicht durch Unterricht oder Predigt, sondern durch leiblich-ästhetische Handlungen zu vermitteln und so auf besonders wirksame Weise weiterzugeben?

In jedem Fall ist es das Verdienst dieser Studie, mit dem Neuen Geistlichen Lied und seinen Entstehungsbedingungen ein Thema aufgenommen zu haben, dem weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Denn es ist H. zuzustimmen: Diese Liedform ist längst fester Bestandteil evangelischer Gottesdienste, und nicht nur dieser. Mit diesem Buch ist ein Anstoß dazu gegeben, das theologische Gespräch zum Neuen Geistlichen Lied aufzunehmen und auszuweiten.