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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

246–247

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greifenstein, Johannes [Hg.]

Titel/Untertitel:

Predigt als Bibelauslegung. Praktische Hermeneutik in interdisziplinären Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. VIII, 276 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 37. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161600043.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Nach seiner gewichtigen Habilitationsschrift unter dem Titel »Vom Text zur Predigt. Ein Beitrag zur Praxistheorie homiletischer Bibelauslegung« (s. meine Besprechung in ThLZ 147 [2022], 382–384) legt der Münchener Praktische Theologe Johannes Greifenstein mit dem hier anzuzeigenden Sammelband eine Art von interdisziplinärem Kommentar vor, in dem die Homiletik als praktisch-theologische Bibelhermeneutik durch die anderen theologischen Fächer sowie durch juristische, literaturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Perspektiven ergänzt wird. Die praktische Auslegung der Bibel auf der Kanzel steht eben nicht nur in einem kirchlich-theologischen, sondern auch in einem kulturellen Traditionszusammenhang. Auch die Art und Weise, wie man in der kulturellen Praxis mit (teilweise ebenfalls als autoritativ verstandenen) Texten umgeht, ist für den homiletischen Umgang mit der Bibel nicht folgenlos.

In seinem programmatischen Leitartikel »Bibelauslegung vor der Predigt, in der Predigt und durch die Predigt« (24–55) unterscheidet G. diese drei Typen, wobei er besonderes Gewicht auf den dritten Typus legt. Ihm geht es um die »Richtungsumkehr«, bei der »die Hörenden nicht mehr etwas über die Vergangenheit erfahren, sondern mithilfe der Vergangenheit über ihre Gegenwart« (45). Das Ziel ist nicht die bibelbezogene Information, sondern die »Beförderung der Religion« (35). So ist etwa das Verhältnis der Personen im Text zueinander in der homiletischen Auslegung nur von funktio-naler Bedeutung: »Was interessiert denn dieses Verhältnis, wenn es doch um meine Gottesbeziehung gehen muss?« (51, dort kursiv) Die Bibel, so könnte man G. mit Ernst Lange paraphrasieren, soll im Sinne der Situationsklärung »verbraucht« werden; sie kommt in der homiletischen Praxis religiös, man könnte auch sagen kerygmatisch und performativ zu sich selbst.

Ruth Conrad (56–83) macht das in einer »literarischen Spurensuche« bei Hanns-Josef Ortheil und Friedrich Christian Delius deutlich, bei denen allerdings die erlebte Predigt im Vergleich zum erlebten Ritus deutlich schlechter wegkommt. Für die Literaten zerreißt die Predigt das Kleid der Liturgie (so hat es bekanntlich Martin Mosebach in seinem Buch »Häresie der Formlosigkeit« ausgedrückt, vgl. ThLZ 138 [2013], Sp. 1025–1026). Es fehlt, so Conrad, in der Predigt offensichtlich an der medialen Sprache, die »das Alltägliche und Festgeschriebene auf Erhellung und damit auf Verwandlung zu durchbrechen« vermag (80). Nötig wäre also mehr Mut zur performativen Kraft des Religiösen (s. o.), die in ihrer Übereinstimmung und Differenz zur Liturgie zu bestimmen ist.

Eine erste Seitenreferenz ist der von Bernd Schröder gebotene sorgfältige Überblick zur »Bibelauslegung in religiösen Lehr- und Lernprozessen« (84–109). Die homiletische Bibelauslegung kann von der Nutzung didaktischer Instrumente und Kriterien lernen, den Fokus u. a. »auf Relevanz und existentiale Bedeutung, auf Wechselseitigkeit des Verstehens, auf Mehrstimmigkeit der biblischen Überlieferung« zu legen (104). – Präzise beschreibt Friedhelm Hartenstein die Spannung »zwischen Kulturhermeneutik und Christologie« als Spezifikum heutiger Predigt alttestamentlicher Texte (113–132). Von grundlegender Bedeutung ist dabei der Umstand, dass der erste Kanonteil der Bibel »als Tanakh und christliche Bibel« doppelt codiert ist (125). Und wer predigt, braucht auf jeden Fall eine dreifache produktive Distanznahme, eine »(rela-tive) Distanz zum Text, zum Selbst und zur Lebenswelt/Situation« (127) – aber auch die Fähigkeit, sich »verzaubern« zu lassen (128), womit der Anschluss an den Aufsatz von R. Conrad gegeben ist. – Von besonderem Engagement für das (oft ungenutzte) Potenzial der biblischen Texte ist der neutestamentliche Beitrag von Eve-Marie Becker (133–156), die zunächst »den rapiden Verlust von bib-lischer Textbindung in der Predigt« beklagt (135). Es gelte darum, die kerygmatische Sprache der biblischen Texte von der »postmodernen Diskreditierung zu befreien« (139). »Entschlossener denn je sollte die christliche Theologie ihren Verächtern die Stirn bieten!« (140) – Patrick Bahl beschreibt den »Nutzen der Kirchengeschichte für die Predigt« (157–186), indem er Impulse aus verschiedenen Predigtepochen ins Gedächtnis ruft. Luther verstand seine Lehre »als eine situationsbedingte Applikation der Lehre Christi auf die Gläubigen und in diesem Sinne als höherwertig als die in der Schrift überlieferten Worte Christi« (163, Anm. 25, dort kursiv). Bahls Prädikat »höherwertig« klingt missverständlich, richtig daran ist aber, dass in Liturgie und Predigt der Christus praesens zu vernehmen sein soll und nicht eine zeitlos kodifizierte »Lehre«. Insgesamt ist die Kirchengeschichte ein der inventio dienendes »Reservoir für Argumentationsformen und -muster« (169–176) sowie ein »Spracharchiv für die elocutio« (176–179).

Die folgenden fünf Beiträge sind weiter von der homiletischen Theoriebildung entfernt und erfordern z. T. erhebliche Anmarschwege, um an das Ziel der predigtbezogenen Bibelhermeneutik zu gelangen. Rochus Leonhardt (187–201) und Ino Augsberg (205–220) ziehen die andere hermeneutische Praxis autoritativer Texte heran, die juristische Hermeneutik. Auch diese muss Texte »auf solche Konstellationen applizieren […], für die diese Regelungen nicht gemacht waren« (198). Auch hier herrscht die Einsicht vor, dass die Auslegung von Texten letztlich »kein normatives Geschehen« ist, sondern eine Kunst darstellt, die sich ebenso wenig wie an-dere Künste durch Regeln mitteilen oder erwerben lässt (218). Was Augsberg im Anschluss an den Berliner Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) formuliert, harmoniert bestens mit Schleiermachers Verständnis der Homiletik und Praktischen Theologie als Kunstlehre. – Der Germanist Clemens Pornschlegel steuert Impulse aus den Gedichten des französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé (1842–1898) bei (221–233); der Translationswissenschaftler Holger Siever parallelisiert die detailliert und präzise geschilderte homiletische Auslegungspraxis mit dem Vorgang der Übersetzung von Texten (234–253) und die Religionswissenschaftlerin Anna-Katharina Höpflinger beschreibt die Predigt aus kulturwissenschaftlicher Perspektive (254–272).

Als Fazit lässt sich festhalten, dass sich die disziplinenübergreifende Perspektivierung der homiletischen Bibelauslegung in diesem Band als überzeugend und fruchtbar erweist. Das gilt in erster Linie für die theologischen Disziplinen. Der evangelischen Homiletik, die im letzten halben Jahrhundert ihre Vormachtstellung und Leitfunktion in der Praktischen Theologie verloren hat, tut der Weg aus der immer weiteren Spezialisierung bzw. aus der Selbstisolation gut. Die evangelische Maxime, dass die Predigt überhaupt – wenn auch nicht ausschließlich – als »Bibelauslegung« verstanden werden muss, ist inzwischen so wenig selbstverständlich, dass diese eigens betont zu werden verdient. Dass die homiletische Auslegung andererseits nicht in historischen Informationen und Distinktionen stecken bleiben darf, macht der vorliegende Band in überzeugender Weise deutlich. Der Her-ausgeber in seiner beeindruckenden historischen Belesenheit versteckt ein besonders treffendes Zitat dazu in einer Fußnote (46, Anm. 59): »Das Wort vom Himmel werde durch den Vortrag des Predigers so lebendig, als komme es eben jetzt erst vom Himmel herab.«