Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2023

Spalte:

202–204

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Pitkin, Barbara

Titel/Untertitel:

Calvin, the Bible, and History. Exegesis and Historical Reflection in the Era of Reform.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2020. 264 S. Geb. £ 64,00. ISBN 9780190093273.

Rezensent:

Andrea Hofmann

In der hier zu besprechenden Monographie untersucht Barbara Pitkin exegetische Schriften des Genfer Reformators Johannes Calvin und fragt dabei explizit nach Calvins jeweiligem Geschichtsverständnis, das seine Schriftinterpretation bestimmt. Calvin war als Seelsorger, Prediger, Lehrer und Exeget in vielfacher Weise mit der Auslegung der Bibel befasst, die für ihn – wie für die anderen Reformatoren auch – die wichtigste Autorität in Glaubensfragen war. Pitkins Buch bietet sieben Fallstudien zu ausgewählten exegetischen Schriften Calvins, die sie in ihren intellektuellen, kulturellen und historischen Kontext einordnet.

Die erste Fallstudie befasst sich mit Calvins Paulusrezeption (36–67). Calvin betrachtet die Zeit, in der er selbst lebt, als Zeit, in der das wahre Evangelium wieder neu verkündet und die Kirche erneuert werden muss. Wichtige theologische Impulse dazu – z. B. die Rechtfertigungslehre – entnimmt Calvin den Paulusbriefen. Anhand seiner Auslegungen von Gal 2, seinem Traktat Supplex exhortatio (1543) und seiner Paulusrezeption in den Institutio-Ausgaben zeigt P., dass Paulus für Calvin im Blick auf die Bibelexegese generell und für seine Kirchenreform in Genf die wichtigste theo-logische Autorität ist und Calvins eigene Theologie entscheidend prägt.

Das zweite Fallbeispiel befasst sich mit Calvins Johanneskommentar von 1553 (68–96). Für Calvin ist dessen wichtigstes Thema die Heilsgeschichte, die sich durch die Menschwerdung Christi in der Welt vollzieht. Calvin stellt nicht, wie in der traditionellen Exegese üblich, christologische Diskussionen um die Göttlichkeit Christi ins Zentrum seiner Auslegung.

Mit dem Psalter befasst sich das dritte Fallbeispiel (97–121). P. gibt einen Überblick über Calvins vielfältige Beschäftigung mit den Psalmen in Predigten, Vorlesungen, weiteren Auslegungen sowie über seine Impulse für die Entstehung des Genfer Psalters. Wichtigste Quelle für P.s Analyse ist der Psalmenkommentar (1557). Wie durch einen Spiegel erkennt Calvin in den Psalmen Erfahrungen von Glaubensflüchtlingen seiner eigenen Zeit. Nicht zuletzt sein eigenes Schicksal steht im Hintergrund, wenn Calvin die Psalmen kommentiert. In den Psalmen sieht er zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abgebildet. Der Glaube an die göttliche Providenz und den Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, ist dabei zentral.

1559, als gerade zahlreiche Glaubensflüchtlinge Genf erreicht hatten, erschien Calvins Jesajakommentar, P.s viertes Fallbeispiel (122–140). Jesajas Prophezeiungen sind laut Calvin in erster Linie auf das Volk Israel bezogen und sagen dessen Rückkehr aus Babylon voraus. Auch in diesem Buch sieht Calvin jedoch, wie in einem Spiegel, die Exilserfahrungen seiner eigenen Zeit abgebildet. Geschichte und Gegenwart sind durch die göttliche Providenz verbunden. Mithilfe der Jesajatexte erfahren Calvins Hörerinnen und Hörer, dass ihre eigenen Erlebnisse nicht sinnlos bleiben.

Eine Besonderheit gerade im Vergleich zur sonstigen exegetischen Tradition stellt Calvins Auslegung des Buches Daniel dar, das fünfte Fallbeispiel (141–164). Die Vorlesungen, die Calvin 1559–1560 dazu in der neuen Genfer Akademie hielt, wurden 1561 veröffentlicht. Calvin liest Davids Prophezeiungen nicht als eschatologische Prophezeiungen. Vielmehr bezieht er alle Prophezeiungen auf schon vergangene historische Ereignisse. Das letzte im Buch Daniel vorhergesagte Ereignis ist das erste Erscheinen Christi auf der Welt. Calvin stellt zwar Analogien zwischen dem Babylonischen Exil und den reformierten Christen im 16. Jh. her, sieht aber die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart vor allem wieder dadurch gegeben, dass die ganze Geschichte unter der Providenz Gottes steht. Das Buch Daniel bietet aus seiner Sicht Trost für alle Gläubigen, weil es zeigt, wie Gott zu allen Zeiten für die Menschen sorgt.

Das sechste Fallbeispiel befasst sich mit Calvins Kommentar zu den vier letzten Büchern des Pentateuchs, der 1563 entstanden ist (165–195). Calvin unterscheidet in diesem Kommentar streng zwischen den Rechtstexten und den Erzähltexten aus dem Alten Testament. Um Calvins Auslegung der Rechtstexte zu kontextualisieren, bringt P. diese mit Texten von Calvins Zeitgenossen, den französischen Rechtsgelehrten François de Connan und François Baudouin, ins Gespräch. So kann besonders Calvins Geschichtsverständnis anhand seiner Interpretation der Rechtstexte in den breiten intellektuellen Kontext seiner Zeit eingeordnet werden. Deutlich wird dabei, dass Calvin am zeitgenössischen Diskurs über sich wandelnde Konzeptionen von Geschichte partizipiert, sich um Kontextualisierung bemüht und erst nach Abwägung historischer Gegebenheiten universale Lehren aus der Schrift zieht.

Als letztes Fallbeispiel dienen schließlich Calvins Predigten zum zweiten Samuelbuch, die er ab 1562 in der Zeit des ersten Hugenottenkriegs gehalten hat (198–218). Calvin will mit diesen Predigten, in denen er das zweite Samuelbuch typologisch deutet, die Einwohnerinnen und Einwohner Genfs trösten und ihrem Erleben während des Krieges Sinn verleihen. P. kontrastiert Calvins Predigten mit der Schrift Consolatio è sacris litteris von François Hotman, die dieser etwas später, während des dritten Hugenottenkrieges, verfasst hat. Hotman war wie Calvin Glaubensflüchtling. Beide schöpfen den Trost des Heiligen Geistes aus den Texten des Alten Testaments. Sie verstehen die gesamte Geschichte bis in die Gegenwart als Heilsgeschichte, die unter der göttlichen Providenz steht.

Anhand der sieben skizzierten Fallbeispiele zeigt P. anschaulich, wie Calvins Bibelinterpretation durch sein Geschichtsbewusstsein geprägt ist. Dieses Geschichtsverständnis kann, so wird deutlich, je nach biblischem Buch und je nach Kontext unterschiedliche Nuancen annehmen. Calvin interpretiert einerseits Geschichte als Ausweis der göttlichen Providenz, die Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbindet. Andererseits zieht Calvin jedoch nicht unreflektiert aus allen biblischen Texten universale Lehren, sondern kontextualisiert die Bibeltexte historisch, bevor er entscheidet, was universal gültig ist. Damit weicht er an einigen Stellen von der traditionellen Schriftauslegung ab. Er orientiert sich bei seiner Auslegung nicht nur an theologischen Fragestellungen seiner Zeit, sondern partizipiert auch an weiteren intellektuellen Debatten.

Gerade diese Einordnung Calvins in den intellektuellen historischen und kulturellen Kontext sowie die Analyse unterschiedlicher Textgattungen aus Calvins Œuvre, in denen dieser selbst sich mit unterschiedlichen biblischen Textgattungen befasst, sind die große Stärke des Buches. P. gelingt so ein Grundlagenwerk über die exegetischen Schriften Calvins, die oft heute noch im Schatten der Institutio stehen.