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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

200–202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Leu, Urs B., u. Sandra Weidmann

Titel/Untertitel:

Der bibliophile Reformator. Rudolf Gwalthers Privatbibliothek.

Verlag:

Baden-Baden: Verlag Valentin Koerner 2020. 348 S. m. 36 Abb. Lw. EUR 118,00. ISBN 9783873207554.

Rezensent:

Christine Christ-von Wedel

Herzstück des Bandes ist der 408 Drucke und zehn Handschriftenkonvolute (darunter 28 Mitschriften von Vorlesungen Theodor Biblianders) umfassende Katalog der noch greifbaren Werke aus dem Besitz des Zürcher Antistes Rudolf Gwalther (1519–1586), sowie von 13 meist aus Briefen nachzuweisenden, aber verschollenen Drucken. Dass Werk ergänzt trefflich Verzeichnisse Kurt Jakob Rüetschis zu den Briefen und Werken von Vater und Sohn Gwalther, die kürzlich in derselben Reihe – Bibliotheca bibliographica Aureliana – erschienen.

Auf 80 Seiten haben Urs B. Leu und Sandra Weidmann die wichtigsten Ergebnisse, die sich aus der Kenntnis des Bestandes ergeben, zusammengetragen. Das Besondere der inhaltlich und für seine Zeit in Zürich auch zahlenmässig bedeutenden Bibliothek Gwalthers sind die breitgefächerten Themengebiete und die zahlreichen Marginalien: Besitzereinträge mit Hinweisen auf Herkunft und Preise der Werke sowie persönliche Bemerkungen und Unterstreichungen Gwalthers, die im Katalog jeweils ausgewiesen werden.

Das Autorenteam hat bereits die Privatbibliotheken Zwinglis, Bullingers und Gessners aufgearbeitet, so kann es auf breite Kenntnisse zurückgreifen und die Buchsammlung Gwalthers überzeugend in den Kontext der Zürcher Bibliotheken stellen. Die Analyse macht klar, bei der Auswertung von Zürcher Privatbeständen ist jeweils zu bedenken, dass die Stiftsbibliothek mit ihrer theologischen Ausrichtung den interessierten Pfarrern offenstand. Wenn also wichtige Werke in den Privatbibliotheken fehlen, heißt das nicht, die Zürcher hätten sie nicht gelesen und sich nicht dafür interessiert. Zudem liehen sie sich gegenseitig Bücher aus. Auch kann aus dem Besitz von Büchern, die die Gelehrten oft als Geschenke erhielten, wie u. a. Gwalthers Einträge belegen, nicht geschlossen werden, die Besitzer hätten sie studiert oder befürwortet. Entsprechend vorsichtig bleiben Weidmann und Leu in ihrer Analyse. So verweisen sie z. B. in ihrer Auswertung nicht auf das im Katalog angeführte engagierte Kampfbuch gegen die Hexenprozesse von Johannes Wier oder Weyer (Nr. 401), das Gwalther mit einem Besitzeintrag versah, aber wohl kaum gelesen hat, geschweige denn beherzigt, anders etwa als seine Basler Kollegen, Antistes Simon Sulzer und später Johann Jakob Grynäus, die sich im Gegensatz zu dem Zürcher Kollegen gegen Hexenverurteilungen mit Erfolg einsetzten.

Dennoch können Leu und Weidmann, unterstützt von Kurt Jakob Rütschis Forschungen (7 f.), überzeugend den von der Historiographie bisher vernachlässigten Zürcher Antistes (im Amt der Kirchenleitung von 1575–1585) charakterisieren, der im Titel erstaunlicherweise als »Reformator« gewürdigt wird.

Rudolf Gwalther erweist sich als ein Theologe mit einem weiten Horizont. Er beherrschte nicht nur die biblischen Sprachen, er interessierte sich auch für Geschichte, Philosophie und die klassische Literatur des Altertums. Der begeisterte und gefragte Poet, Verfasser zahlreicher lateinischer Distichen, u. a. zu biblischen Stoffen, besaß etwa Horaz, Juvenal, Ovid, Martial und Plautus.

Seine Bibliothek umfasste Bibeln in den Originalsprachen, die nicht in seinen Bücherborden verstaubten. Der Zürcher übersetzte Psalmen aus dem Hebräischen und überarbeitete die Übertragung des Neuen Testamentes von Erasmus für die Biblia sacrosancta, die Zürcher lateinische Bibel von 1543. Gwalther war »ein hervorragender Philologe« (63). Bemerkenswert sind auch verschiedene lateinische Bibelübersetzungen und kommentarartig annotierte Ausgaben, die der eifrige Prediger offenbar neben dem Originaltext für seine Auslegungen konsultierte. Die wohl am meisten benutzte Ausgabe war ein griechisches Neues Testament mit dem Text von Erasmus, das 1531 bei Johannes Bebel in Basel erschienen war. Darin hielt Gwalther neben zahlreichen anderen Einträgen fest, über welche Texte er sonntags zwischen 1541 und 1581 predigte. Wie Zwingli legte er ganze biblische Bücher in Reihenpredigten aus, eine kurze Perikope nach der anderen. Wohl gleichsam als Motto trug er in dieses Neue Testament die Mahnung nach 1Petr 4,11 ein, nicht aus eigener Kompetenz zu predigen, sondern nur Gottes Wort zu verkünden: »[…] qui in Ecclesiam concionem habere vult, Deum precari debet, ut ne quid ex se ipso dicat, sed ita doceat, ut ei serviat illud Apostoli quod loquatur, ut eloquentia Dei« (Nr. 44).

Ganz im Sinne »humanistischer« Exegese, wie sie Erasmus empfahl, befasste er sich mit Geographie und Geschichte, insbesondere mit biblischer Chronologie, die in Zürich von Theodor Bibliander und Heinrich Bullinger besonders intensiv gepflegt wurde. Sie waren seine Lehrer und Vorbilder. Von ihnen wies seine Bibliothek zahlreiche Bände auf, von Bullinger, der den früh Verwaisten in sein Haus genommen und erzogen hatte, 46 Titel, darunter viele Geschenke, und von Bibliander 15 Titel, denen nur zwei von Luther gegenüberstehen. Den »vermittelnde[n]« Melanchthon (41) schätzte Gwalther offenbar mehr, von ihm sind acht Titel mit Besitzvermerk erhalten, darunter die De Dialectica libri quatuor, zwei zum zwischen Reformierten und Lutheranern umstrittenen Abendmahlsverständnis und der Danielkommentar, der Gwalther wohl insbesondere wegen der in Zürich viel studierten Apokalyptik interessierte. Gwalther, so weist die Bibliothek aus, war ein gut reformierter Theologe. Zu untersuchen wäre, wie weit Gwalther der auch bei Zwingli, dem jüngeren Bullinger und insbesondere bei Bibliander nachzuweisenden neuplatonischen Denkweise verpflichtet war, worauf mir seine naturwissenschaftlichen Interessen und Marginalien zu Johannes Lonitzers Aristoteleskommentar hinzuweisen scheinen (26 und Nr. 277).

Widmungen und Geschenkeinträge belegen – wie schon die Briefverzeichnisse Rüetschis – Freundschaften weit über den engeren Gelehrten- und Freundeskreis in Zürich und Basel hinaus. Gwalther erhielt Bücher aus dem Reich, von italienischen Spiritualen und von französischen, englischen und polnischen Reformierten. Er hatte, wenn auch kaum so ausgeprägt wie Bullinger, durchaus eine europäische Bedeutung. Wie weit sein Einfluss reichte, wäre eine Untersuchung wert.

Leu und Weidmann gehen den Schenkern akribisch nach und geben dabei viele neue Aufschlüsse zu bekannten und auch kaum bekannten Zeitgenossen Gwalthers. Leider ist ihnen gleich zu Anfang im Abschnitt zur Biographie Gwalthers (13) ein ärgerlicher Fehler bzw. eine Verwechslung unterlaufen. (Da wird irrtümlich der Antistes und Schwiegersohn Zwinglis, Rudolf Gwalther, als »Enkel Zwinglis« bezeichnet. Enkel Zwinglis war der gleichnamige, früh verstorbene Sohn des Antistes: Rudolf Gwalther [1552–1577], Diakon im Zürcher Pfarrsprengel St. Peter). Das sollte indessen niemanden davon abhalten, das Buch, das einen enormen Wissensschatz enthält, für die weitere Erforschung der Zürcher Reformation in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s zu nutzen. Es bietet zahlreiche wichtige personen- und buchgeschichtliche Hinweise und wirft interessante theologische Fragen auf.