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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

167–169

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Barbiero, Gianni, Pavan, Marco, and Johannes Schnocks [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Formation of the Hebrew Psalter. The Book of Psalms Between Ancient Versions, Material Transmission and Can- onical Exegesis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. IX, 454 S. = Forschungen zum Alten Testament, 151. Lw. EUR 154,00. ISBN 9783161608476.

Rezensent:

Ulrich Dahmen

Das Buch geht zurück auf ein Panel zu Psalmen beim SBL Meeting in Rom 2019. Es versucht eine Bestandsaufnahme der Forschung zur Psalterentstehung und -komposition (»Formation«). »Kanonische Exegese« steht gegen materielle Textüberlieferung, wobei letztere die diachrone Fragestellung zu bestimmen oder zu überlagern scheint. Gewidmet ist es dem Andenken von Erich Zenger; dem wird in persönlichen Erinnerungen von B. Janowski (417–420), J. Schnocks (421–423) und E. Ballhorn (425–428) an den Kollegen, Lehrer und wortgewaltigen Psalmen-Übersetzer Rechnung getragen. Der Schatten dieses großen Psalmenforschers ist lang, und seine (mit F.-L. Hossfeld) initiierte Neuausrichtung der Psalmen-/Psalterforschung wirkt fort und wird fruchtbar weiterentwickelt.

Das Buch vereint 15 Beiträge von etablierten Psalmenforschern und »jungen Wilden«, die kreativ, manchmal forsch neue Wege einschlagen und zum Teil Thesen formulieren, deren Tragfähigkeit sich noch erweisen muss. Nach der Einführung der Herausgeber (1–7) finden sich vier Unterabschnitte – Zweites und Drittes Psalmenbuch kommen nicht vor:

1. Methodologie und Theologie:M. Pavan (The Psalter as a Book? A Critical Evaluation of the Recent Research on the Psalter; 12–82) bietet eine instruktive Forschungsgeschichte der Psalmen- und Psalterexegese seit Mitte des 19. Jh.s. Auch wenn manches schlagwortartig verkürzt wird (z. B. die Epocheneinteilung [13.26]) und manche Darstellung zu kurz ausfällt, wird man hier gut informiert. Für die letzte Dekade (38–68) wird die Darstellung breiter und die Gemeinsamkeit mit den folgenden Beiträgen (D. Willgren Davage, What Could We Agree On? Outlining Five Fundaments in the Research of the ›Book‹ of Psalms [83–117];W. Yarchin, Why the Future of Canonical Hebrew Psalter Exegesis Includes Abandoning Its Own Premise [119–137]) sichtbar. Die Hypothesenbildung zur Textgeschichte nimmt ihren Ausgangspunkt beim Masoretischen Text (Codex L) bzw.textus receptus und fragt von diesem zurück, insofern er mit antiken Manuskripten (Qumran) korreliert wird, um daraus Schlüsse zu ziehen, die einer »Vernichtung« des sog. Endtextes gleichkommen, den es in vorchristlicher Zeit niemals gegeben habe. Dagegen erheben sich Bedenken: Es wird immer unklarer, ob und inwieweit die Qumran-Psalmen so sehr vontextgeschichtlichem Wert sind (vgl. Weber [250 f.]), sofern sie Versionen (seltener) von Einzelpsalmen und (häufiger) von Psalmenabfolgen mit eigenem erkenntnisleitenden Interesse bieten: Für die Psalmenrolle 11QPsa – und die große Jesaja-Rolle 1QJesa – scheint mir das unzweifelhaft so zu sein. Textform und Abfolgen einer Psalmenrolle in ihrer (vorläufigen) Endgestalt v. Chr. lassen sich nicht mehr rekonstruieren (vgl. Schnocks [310 mit Anm. 7]) – schon die Manuskripte vom Toten Meer weisen eine Pluriformität von Textformen und Ordnungsprinzipien aus, die weder autoritativ waren noch Zeugen einer Textgeschichte sind. Wir können nur hoffen, dass die Codizes A und L Textformen und Abfolgen bewahrt haben, die entfernt bis einigermaßen der Zeit v. Chr. entsprechen (zuversichtlicher Schnocks [310]). Zumindest der Konsonantentext der Einzelpsalmen ist stabiler belegt als die Psalmenabfolgen (Schnocks [310.314.327]); das eröffnet die Möglichkeit, manches Psalmen-Manuskript (bes. 11QPsa!) als Rezeptionsphänomen zu definieren. Nicht allen Beiträgen ist klar (z. B. Willgren Davage; Yarchin; Brodersen), dassnicht sämtliche antiken (und mittelalterlichen) Manuskripte unterschiedslos als Belege für eine Textgeschichte auszuwerten sind! Daher ist auch die Argumentation mit den Psalmen-Pesharim (Willgren Davage [96–106] zu 4Q171) methodologisch nicht statthaft: Rezeptionsphänomene sind nicht immer »textgemäß«, wie schon Ps 113–118 in ihrer (liturgischen) Rezeption als Pessach-Hallel ohne Rücksicht auf den literarischen Kontext Ps 105–118 zeigen (S. Gillingham, The Egyptian Hallel. Narrative and Liturgy, and the Formation of the Hebrew Psalter [347–366], die die Studie von E. Ballhorn, Zum Telos des Psalters [BBB 138], 2004, dazu überhaupt nicht rezipiert).

Yarchin nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Diversität mittelalterlicher Manuskripte und seziert die Annahme eines einzigen kanonischen hebräischen Psalters (130); seine ausschlaggebende Beobachtung ist die Evidenz differenter ästhetischer und graphischer Gestaltung der Manuskripte. Hier fehlt mir der Seitenblick auf die LXX, die manches Phänomen der graphischen Gestaltung hätte nachvollziehbar machen können; zum anderen fällt auf die m. E. etwas leichtfertige Folgerung, aus graphischen und ästhetischen Beobachtungen der Textdarstellung gleich auf eine Segmentarisierung in differente Einzelpsalmen zu schließen (131): Überspitzt formuliert würde das bedeuten, dass man die graphische Darstellung von Ps 119 in 11QPsa als 22 Einzelpsalmen wahrnehmen müsste. Das wird hoffentlich niemand ernsthaft fordern.

Angefragt ist nach diesen Beiträgen die Diachronie, die über einengap von mehr als 1000 Jahren hinweg ein (oder mehrere) Hypothesengebäude sondergleichen zur textinternen und textexternen Entstehungsgeschichte aufgebaut hat und eine solche These zur Maxime der Exegese resp. Textauslegung zu erheben scheint. Angefragt ist die Synchronie, welcher Text dennder auszulegende Endtext sei angesichts der materialen Diversität bis ins Spätmittelalter. Angefragt ist die diachron verantwortete Synchronie gleich in doppelter Weise. Und hinter alldem steht die Frage nach dem Kanon als einem heiligen und inspirierten Text, der angesichts der »sheer variety of manuscript evidence« (131) ganz neu durchdacht und definiert werden müsste. Ein Rückzug auf dieveritas hebraica (welche?) oder die tridentinischen Festlegungen zu Umfang (LXX) und Textfassung (V) genügt modernen Ansprüchen auf Präzision nicht mehr. Aber die »Flucht« in den Schutzraum einer »reinen« Theologie, die von jeglicher Textgeschichte absorbiert den Kanon als Prozess auffasst, ist auch kein Ausweg (Schnocks [314 f.]).

Der Beitrag vonB. Janowski (A Temple in Words. The Theological Architecture of the Psalter; 139–163) ist die gekürzte und aktualisierte Fassung eines 2010 in deutscher Sprache erschienenen Entwurfs zur synchronen Leseweise des Psalters mit Hilfe der Metapher des Tempels (in/aus Worten).

2. Der Erste Davidpsalter: Die Beiträge zeigen, wie fest verankert die von Hossfeld/Zenger erkannten vier Teilgruppen des ersten Davidpsalters (Ps 3–14; 15–24; 25–34; 35–41) in der Forschung sind. Man kann diese Architektur mit derart fest markierten kompositorischen Einheiten nicht ignorieren. Zengers eigenes Diktum zum NEB-Kommentarband zu Ps 1–50: »So kann man es nicht (mehr) machen!« (vgl. G. Fischer, ZKTh 137, 2015, 385) wird in den Beiträgen insofern umgesetzt, als sie dessen Grundlagen, so defizitär sie im Einzelnen tatsächlich gewesen sein mögen, präzisieren, differenzieren, vertiefen und weiterführen, vor allem im Blick auf Beziehungsgeflechte innerhalb und zwischen diesen Teilgruppen. So zeigt P. J. Botha (Indications of Intentional Interconnectedness between Pss 1–2 and Ps 37 and the Implications for Understanding the Concerns of the Editors of Book I in the Psalms; 167–185) die (intendierten) Beziehungen zwischen dem Prolog (Ps 1–2) und Ps 37 auf, wobei mir die Betonung von interessegeleiteten rea-len oder impliziten Autoren/Editoren fragwürdig erscheint. Solche Beziehungen sollten nur auf der Textebene stark gemacht werden: Als heutige Leser können wir keine realen Autoren, sondern allenfalls Bilder von Autoren rekonstruieren; Leser interferieren ihre lebensweltlichen Erfahrungen und geben den Aussagen und Verbindungslinien in einem Text einen Sinn und Zusammenhang.K. Liess (Schuld und Vergebung. Psalm 25 in seinem Psalterkontext; 215–242) nimmt nach einer Auslegung des Psalms die kontextuelle Stellung von Ps 25 in der Abfolge der Ps 24–26 und damit über eine Teilgruppengrenze hinweg in den Blick (228–239).G. Barbiero (Psalms 35–41 as the Conclusion of Book I of the Psalms; 288–305) stellt das, was P. J. Botha (s. o.) für einen Einzelfall analysiert hatte, mit der wohl schwierigsten Teilgruppe des Ersten Davidpsalters auf eine breitere Basis, bezüglich seiner literarischen Beziehungen zu den übrigen Teilgruppen und zum Prolog des Psalters (292: Makarismen in Ps 1–2 und Ps 40–41).

Im Beitrag vonF. Hartenstein (Psalm 23 als Brennspiegel seines Umfelds. Intertextuelle Bezüge und Entstehung in der Teilkomposition Ps 15–24; 187–214) wird auf beispielhafte Weise das Hossfeld/Zenger-Modell für eine konkrete Teilgruppe weiterentwickelt und modifiziert. Ausgehend von synchronen Beobachtungen zur Teilkomposition Ps 15–24 und zu Ps 23 in seinem Umfeld (188–198, mit eindrücklichen tabellarischen Übersichten [195–197]) kommt Hartenstein zu einem differenten Entstehungsmodell, das Ps 23 »wohl als für den Kontext neu abgefasst« in einer früh-perserzeitlichen Grundkomposition verortet (205). Methodologisch muss man festhalten, dass, wenn Hartenstein aus der Synchronie heraus als Ziel ein Entstehungsmodell hat, bei ihm eine synchron verantwortete Diachronie vorliegt, während Hossfeld/Zenger m. E. eher den Weg von der redaktionsgeschichtlichen Hypothese zur synchronen Auslegung des Endtextes (diachron verantwortete Synchronie) gegangen waren.

B. Weber (»Ich will den Herrn preisen zu jeder Zeit …« [Ps 34,2]. Die Psalmen 25–34 als Kleinkomposition in Verbindung mit hermeneutisch-methodischen Überlegungen zur »Psalterexegese«; 243–288) legt eine rein synchrone Analyse der Teilgruppe Ps 25–34 vor (mit ausführlichen tabellarischen Übersichten [256f.260–268.271f.]), deren »kanonisch-literarischen Zugang« er als »holistisch-partitiv (Psalterbedeutung) ausgerichtet« (251) definiert und deren Berechtigung er hermeneutisch vehement verteidigt, unbeschadet der Problematik des Endtextes (s. o.).

3. Viertes und Fünftes Psalmenbuch: Neben dem Beitrag von S. Gillingham (s. o.) sucht in dieser Abteilung W. D. Tucker (»Let Israel Now Say« [Ps 124:1b]. Group Identity in Pss 107–145; 331–346) nach Trägergruppen innerhalb des Fünften Psalmenbuches. Dessen Teilsammlungen, bei denen die Ps 108–112 gänzlich unberücksichtigt bleiben, werden mit Schlagworten (Identität; kollektive[s] Erinnerung/Gedächtnis; Ort/Raum usw.) versehen, die erst noch mit konkreten Trägergruppen zu verbinden wären. In der linearen Abfolge sei eine Verschiebung dieser Gruppenidentitätsmerkmale hin zum letzten Davidpsalter festzustellen.

J. Schnocks (Die Psalterexegese und die Handschriften. Überlegungen zum IV. Psalmenbuch [Ps 90–106] als Komposition und in Qumran) bietet einen Gegenentwurf zu Yarchin (s. o.). Nach hermeneutischen und methodologischen Überlegungen (309–320) analysiert er die Komposition des Vierten Psalmenbuches (320–325) und seine Redaktionsgeschichte (325–327). So wird plausibel, dass Psalmen in Qumran, die in der Psalmenabfolge vom MT abweichen, oftmals eine Textform aufweisen, die nur aus ihrer Position im späteren MT erklärbar ist (327 mit Anm. 59 am Beispiel von Ps 104 und seinem Hallelujaruf). Das ist eine wichtige Erkenntnis in der Diskussion: Antike Psalmenrollen können Rezeptionsphäomene darstellen, die ihren Ausgangspunkt von einer proto-masoretischen Textform und Psalmenabfolge nehmen, die im späteren MT bewahrt sind.

4. Schluss-Hallel:A. Brodersen (No Final Hallel. Material Sources for Psalm 146–150; 369–381) undF. Neumann (»YHWH Shall Be King Forever!« [Ps 146:10]. The Phenomenon ofFortschreibung within the Final Hallel; 383–399) bieten Präzisierungen und Weiterführungen ihrer Dissertationen. Für Brodersen waren die Psalmen des Schlusshallels eigenständige Einzelpsalmen, die keine intendierte Teilsammlung bilden. Damit wird eine präkompositionelle Vorstufe zur Basis einer Auslegung gemacht. Hier verwundert schon das positivistische Festhalten an den antiken Manuskripten als relevante und ausschließliche Zeugnisse einer Textgeschichte. Neumann erkennt in diesen Psalmen einen Fortschreibungsprozess, der sie unter dem Leitmotiv des Königtums Gottes zu einer intendierten Komposition gemacht hat.E. Ballhorn (Researching Sense at the End of the Psalter. Pss 145–150 and Its Canonical Shapes; 401–413) konzentriert sich ganz auf die Ebene des Endtextes und Kontextes und fragt unter Absehung der Rückfrage nach impliziten Autoren (intentio autoris) danach, wie der Text heute im Kontext funktioniert (intentio operis) (406). B. leugnet weder die Möglichkeit, jeden Psalm als Einzeltext zu interpretieren (405), noch eine diachrone Entwicklung (406). Aber er betont zu Recht, dass jeder Psalm ein neues Eigenleben beginnt, sobald er in einen Kontext eingestellt ist, tradiert wird und sich in einem langen Lese- und Interpretationsprozess befindet (406). So vergleicht B. innovativ die hebräische (MT) und griechische (LXX) Version, die als Eigenkompositionen je für sich sinnvoll zu interpretieren sind.

Die angedeuteten Querverbindungen innerhalb des Buches, seien sie autorenintendiert oder sich den Lesern auf der Textebene erschließend, zeigen, wie man unterschiedliche Hermeneutiken, Methodologien und Untersuchungsweisen der Psalmen und des Psalters fruchtbar miteinander ins Gespräch bringt, selbst wenn manche exegetischen Positionen noch oder bleibend unausgeglichen nebeneinanderstehen. Die künftige Forschung wird sich an der Neuausrichtung der Textgeschichte abarbeiten müssen, manche Beiträge (Botha; Barbiero; Tucker; Gillingham) rezipieren diese gar nicht. Einige müssen den Zug der aktuellen Psalmenforschung noch erreichen, andere sitzen im Führerhaus, geben Vollgas und stellen manche Weichen neu, ohne zu wissen, ob die neuen Geleise am Prellbock enden oder in eine Weite hinausführen, die die Psalmen- und Psalterexegese voranbringen wird. Dieser Band ist im Konzert der vielen ein ganz wichtiger, der sich als prägend etablieren wird.