Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

140-142

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Zimmer, Miriam

Titel/Untertitel:

Säkularisierung und die Veränderungsdynamiken religiöser Organisation. Eine vergleichende Studie der römisch-katholischen (Erz-)Diözesen Freiburg, München und Freising sowie Trier.

Verlag:

Baden-Baden: Ergon Verlag (Nomos) 2022. 375 S. = Religion in der Gesellschaft, 49. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783956508943.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Dass die beiden großen Kirchen in Deutschland insbesondere aufgrund der Säkularisierung in einer Reproduktionskrise stecken, lässt sich nicht leugnen. Dabei galt die katholische Kirche noch lange als erheblich stabiler als die evangelische. Angesichts ihrer Schwierigkeiten, die massiven Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, und den daraus folgenden epochal hohen Kirchenaustrittszahlen, stellt sich die Frage nach den Veränderungsmöglichkeiten dieser religiösen Großorganisation aber umso mehr – zumal sie von außen, weit mehr als ihre evangelische Schwesterkirchen, oft als geschlossene Institution erscheint. Aber dieses Bild trügt: Selbst katholische Bistümer sind nicht (mehr) ultrastabil! – Dies belegt die herausragende Göttinger Dissertation von Miriam Zimmer über die Veränderungsprozesse der (Erz-)Diözesen Freiburg, München und Freising sowie Trier. Ihr Material besteht in 2017–2018 (also noch vor der massiven Krise) geführten Interviews mit dem Leitungspersonal der Bistümer (außer den [Erz-]Bischöfen) und offiziellen Dokumenten aus dieser Zeit. Die Analyse dieses Materials ist geleitet durch ein von der Forscherin aus religions- und organisationssoziologischen Ansätzen und Theorien erstelltes komplexes Modell der Reaktionen religiöser Organisationen auf die ihre Reproduktion beeinträchtigenden Veränderungen in ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Die Ebenen der Verarbeitung der Unsicherheitserfahrung bestehen in der Wahrnehmung der Situation (1), ihrer Deutung (2), der Entwicklung von Veränderungsintentionen (3) und dem organisationalen Veränderungshandeln (4). In sie hinein intervenieren Spezifika, wie z. B. Interpretationsmuster und Narrative (zusammengefasst auf S. 321). Das Modell wird übersichtlich in Schaubildern entwickelt und begleitet in seinen Varianten die Analyseschritte, so dass die jeweiligen Teilergebnisse der Studie in ihrer Abfolge gut nachzuverfolgen sind.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel und einen Datenanhang. Nach der Einleitung (1) wird zunächst der »Wandel religiöser Organisationen als Säkularisierungsfolge« in der bisherigen (nicht sehr umfangreichen) Forschung dargestellt (2). Daran schließen sich theoretische Überlegungen an (3), die in das erwähnte Modell integriert werden. Es folgen Überlegungen zum Studiendesign und zur Methode (4), bevor die katholischen Bistümer in Deutschland generell (5) und schließlich die drei Bistümer im Einzelnen (6) untersucht werden. Sehr eindrucksvoll ist die Bündelung der Ergebnisse als »Prozessmodell der Unsicherheitsverarbeitung religiöser Organisationen« (7), das Maßstäbe für eine zukünftige Organisationssoziologie der deutschen Kirchen setzt, und schließlich das Fazit (8).

Was sind die Ergebnisse? Die drei Bistümer reagieren markant unterschiedlich auf die zunehmenden Unsicherheiten ihrer Repro- duktion. In Freiburg wird eine Wahrnehmungsstruktur beson-ders deutlich, die auch sonst im deutschen Kontext oft greift: kirchliche Entscheider betrachten ihre Organisation »als einseitig abhängiges Repräsentationsorgan der Gesellschaft«, woraus geringe Änderungsmöglichkeiten und ein passives Reaktionsverhalten folgt. Weder werden dann organisatorische Entscheidungs-prozesse optimiert noch wird das wenige, was unternommen wird, konsequent verfolgt. Der Selbstvergewisserungsbedarf ist hoch. Z. prognostiziert hier eine Entwicklung zu einer »religiösen Partikularorganisation«. München und Freising geht hingegen den Weg der »organisationalen Professionalisierung«. Die Diözese soll nach außen wirken und neue Narrative entwickeln, um den Anschluss an die Gesellschaft zu behalten. Um das zu erreichen, kommt es zur Dezentralisierung der Verantwortung in Richtung der Pfarreien und zur Ermutigung von Experimenten. Die Führungskräfte haben strategische Interessen im Blick und setzen sie in ihren Bereichen um. Im Ergebnis mausere sich das Bistum zu einer »funktionalen Denomination«. Anders schließlich Trier, wo dezidiert auf religiöse Gemeinschaftsbildung gesetzt werde und die nüchterne Organisationsentwicklung aus dem Blick geraten könne. Im Ergebnis befände sich Trier auf dem Weg zu einer »spirituellen Mitgliederorganisation«. Eine monolithische Entwicklung ist in der katholischen Kirche folglich nicht zu erkennen.

Möglicherweise entscheidender als diese Differenzen scheint allerdings zu sein, dass die Bistümer in drei Möglichkeiten der Organisationsgestaltung konvergieren, die sie gerade nicht wahrnehmen: sie stellen ihre historisch gesicherte Monopolsituation nicht infrage und beschreiben sich selbst nicht als Organisation unter anderen Organisationen (1); sie stellen ihre kultivierten Mythen (wie z. B. die Rolle der Pfarreien vor Ort) nicht infrage (2); und es gelingt ihnen nicht, ihren diffusen Organisationszweck und Allumfassungsanspruch zu spezifizieren (3). Zur Zeit der Interviews wurden noch in keiner der Diözesen Angebote gekürzt oder Priorisierungen vorgenommen. Das wird sich allerdings mittlerweile geändert haben. 2018 funktioniert die katholische Kirche noch als klassische Anstalt. – Die Differenzen werden plausibel vor allem auf die unterschiedliche berufliche Sozialisation der Führungskräfte im Verhältnis zu eigenen Erfahrungen mit dem Organisationshandeln und der Konstellation der Führungsriege zurückgeführt. Sie können zwar nicht top down die Prozesse steuern, aber »ihre jeweilige Erfahrung und Expertise« eröffnet ihnen einen »spezifischen Umwelthorizont, der entsprechende rationalisierte Mythen und Normen bereitstellt, denen zu entsprechen als Steigerung organisationaler Sicherheit wahrgenommen wird« (331). Weitere Überlegungen zur organisationsbezogenen Kontingenzreduktion durch theologische Topoi und Dogmen wären wünschenswert.

Fazit: Das theoretische Entwicklungsmodell funktioniert auf hohem Niveau und erlaubt bisher in dieser Schärfe kaum mögliche Einblicke in die internen Organisationsprozesse der katholischen Kirche. Es ließe sich ebenso auf andere religiöse Organisationen anwenden und auf diese Weise instruktive Vergleiche ermöglichen. Schön wäre es, wenn die Studie in ein paar Jahren wiederholt und so der ja wohl disruptive Prozess der Organisationsentwicklung seit 2018 bilanziert werden könnte. Die Grenzen der Studie liegen auch auf der Hand: Der reale, empirische Zustand der Organisation kommt nicht in den Blick. Um ihn zu erfassen, müssten die Prozesse vor Ort evaluiert werden. Das scheint allerdings bisher kaum zu erfolgen. Man könnte zudem noch weiter nach der Rolle von explizit theologischen Sichtweisen der Kirche fragen. Sie kommen als organisationsgestaltend relevante Größen nicht vor. Z. wundert sich selbst, dass das Religiöse als solches in der Gestaltung der Kirche kaum eine Rolle spielt (336). Allerdings könnte dieser Eindruck auch an der Art der Interviews liegen, in denen grundlegende Fragen nach der Identität der Kirche nicht vorkommen, sondern höchstens als (irritierende oder biographisch relevante) Organisationsmythen auftauchen. Aber wie dem auch sei: Z.s Arbeit setzt Maßstäbe im Bereich der Soziologie religiöser Organisationen. Eine großartige Studie!