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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

125-126

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stahl, Benjamin

Titel/Untertitel:

Veränderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts im ländlich-peripheren Ostdeutschland.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 459 S. m. 32 Abb. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 32. Geb. EUR 130,00. ISBN 9783525501900.

Rezensent:

Eberhard Winkler

2019 erschien bereits eine Marburger Doktorarbeit zum selben Thema: Kerstin Menzel, Kleine Zahlen, weiter Raum. Pfarrberuf in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands (vgl. ThLZ 144, 2019, 962–964). Dennoch konnte Benjamin Stahl mit der vorliegenden Dissertation in Greifswald promoviert werden, denn es handelt sich um methodisch und inhaltlich unterschiedlich profilierte Studien, die je auf ihre Weise geeignet sind, eine als Bestandteil der Kirchentheorie verstandene Pastoraltheologie im Kontext der gesellschaftlichen und kirchlichen Situation ländlicher Gemeinden im Osten Deutschlands voranzubringen. S. war Mitarbeiter von Michael Herbst am IEEG und ist jetzt Pfarrer im ländlichen Gebiet der Oberlausitz. Er vertritt das missionarische Paradigma der Kirchentheorie und grenzt sich von dem in Deutschland dominanten volkskirchlich-liberalen Paradigma ab, verweist aber auch auf die Schnittmengen beider Konzepte und zeigt, dass die Forschung der letzten Jahre in dem Bemühen, unfruchtbare Gegensätze zu überwinden, Fortschritte gebracht hat.

Die Stärke der Arbeit besteht in der Verbindung umfassender empirischer Befunde mit theologischer Reflexion. In Teil I wird zunächst der Forschungsstand zum Thema Pastoraltheologie in ländlich-peripheren Räumen Ostdeutschlands dargestellt und ein theologisches Defizit konstatiert. Es folgt eine religionssoziologische Beschreibung des ostdeutschen Kontextes mit dem Hinweis auf die verbreitete Indifferenz und den religiös negativen Einfluss der Mehrheitskultur. International nimmt Ostdeutschland in der Ablehnung des Gottesglaubens eine Extremposition ein: Nur 8,2 % der Befragten glauben an einen persönlichen Gott, in der ebenfalls stark entkirchlichten Tschechischen Republik sind es doppelt so viele (88). Elementare religiöse Bildung erweist sich als fundamental notwendig. Die materialreichen Beschreibungen der sozialen und religiösen Wandlungsprozesse zeigen eindeutig, »dass es zu organisationalen und kirchlichen Innovationen kommen muss, wenn man weiterhin Kirche bei, für und mit den Menschen sein und bleiben möchte« (192). Vom Rückbau ist zum Umbau überzuleiten. Dafür erwartet S. Anregungen vom fachwissenschaftlichen Diskurs des Personalwesens. Personalplanung soll notwendige Konsequenzen aus den Folgen des demographischen Wandels ziehen, die im ländlichen Raum besonders gravierend sind. S. zeigt, dass schon jetzt die Arbeitsdichte im Pfarramt Belastungserkrankungen verursacht. Zu fragen ist allerdings, ob und inwieweit die Überforderung in der Quantität der Arbeitslast begründet ist oder eher in ungenügender Resonanz. Auf jeden Fall ist das momentane System dysfunktional geworden und es braucht grundlegende Lösungen, die unter Schrumpfungsbedingungen entwickelt werden müssen. Für die dazu erforderlichen finanziellen Investi- tionen sieht S. gegenwärtig noch ein Zeitfenster geöffnet, das es zu nutzen gilt.

In Teil II erörtert S. die notwendigen theologischen Grundlagen. Anhand der kirchentheoretischen Modelle von Wagner-Rau und Herbst stellt er das volkskirchlich-liberale und das missionarische Konzept dar. Gemeinsam ist beiden der Bezug auf die Missio Dei, die Betonung des Priestertums aller Gläubigen, das Ziel der Mündigkeit und das Interesse an der dazu notwendigen Bildung. Diese Begriffe werden allerdings unterschiedlich entfaltet. Missionstheologisch findet S. eine Brücke zwischen liberalem und missionarischem Paradigma in Sundermeiers Begriff der Konvivenz. Das Priestertum aller Gläubigen interpretiert er, indem er Predigt- und Pfarramt unterscheidet. Das Pfarramt ist ein weiterhin notwendiger Spezialfall des Predigtamtes, nicht aber dessen alleinige Organisationsform. Die Differenz zwischen liberalem und missionarischem Paradigma zeigt sich am schärfsten im Gemeindeverständnis. Zwar berufen sich beide Konzepte auf CA VII, aber der Fokus des liberalen Modells liegt auf dem Individuum, der des missionarischen auf der Gemeinschaft. Individuelle Frömmigkeit und Gemeinschaft bedingen sich gegenseitig und sind besonders im säkularen Kontext nur zusammen möglich. Sehr interessant ist, wie Gerhard Wegner als soziologischer Experte das vielgeschmähte »Vereinschristentum« rehabilitiert (344–347).

S. plädiert für eine kirchliche Pluralismusfähigkeit, eine »mixed economy« verschiedener einander ergänzender Gruppen in diversen Sozialformen. Eine zentrale Aufgabe dieser Gruppen besteht in Bildung, die dazu hilft, als Individuum in der Gemeinschaft Glauben zu praktizieren. So geschieht »Empowerment« (Befähigung) dazu, das Allgemeine Priestertum zu leben. Lokale und regionale Gruppen sollen zu offenen und missionarischen Gemeinschaften werden. Pfarrerinnen und Pfarrer sind nicht mehr die einzigen Handlungsträger in der Pastoraltheologie. Dieser Zweig der Praktischen Theologie ist von der Gemeinde her zu entwerfen, aus der die Mitarbeitenden im Ehren-, Neben- und Hauptamt hervorgehen. Die Motivation zur Mitarbeit wird künftig noch mehr als bisher eine spirituelle Frage sein. Dazu ist es notwendig, die in den Gemeinden vorhandenen Begabungen und Kräfte zu gewinnen und zu fördern, ohne die Ehrenamtlichen als Ersatz für Hauptamtliche auszunutzen und zu überfordern. S.s nüchterne Analysen und sachliche Vorschläge lassen erkennen, wie schwierig das ist.

Die von ihm mit Recht angemahnte Neuorientierung der Pastoraltheologie von der Gemeinde her und auf sie hin bedarf einer stärkeren Besinnung auf die biblischen Grundlagen alles kirchlichen Handelns, besonders der Verbindung von Pneumatologie und Ekklesiologie. Das umfangreiche Literaturverzeichnis (25 S.!) zeigt die Fülle des verarbeiteten Materials. Dirk Kellners Dissertation über »Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie« (2011, vgl. ThLZ 137, 2012, 868–870) hätte die theologische Substanz bereichern können. »Veni Creator Spiritus«. In den ländlich-peripheren Gebieten Ostdeutschlands gewinnt diese Bitte besondere Dringlichkeit. S. beweist das eindrücklich, und er trägt dazu bei, notwendige Schritte der Veränderung zu tun.