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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

113-115

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg, u. Dirk Evers [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Sünde, Schuld, Scham und personale Integrität. Zur neuen Debatte um die theologische Anthropologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 244 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 60. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374069651.

Rezensent:

Lukas Ohly

Nachdem es lange um die theologische Anthropologie still war, tastet man sich inzwischen über die Leibphänomenologie und den Sündenbegriff wieder an sie heran. Das zeigt sich auch in dem vorliegenden Band, der elf Vorträge aus einer Tagung der Fachgruppe für Systematische Theologie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zusammenfasst. Weitgehend arbeiten sich die Beiträge an Klaas Huizings schamtheoretischer Grundlegung einer theo-logischen Ethik ab (10.67.69.122.190.198.225). Das »einseitig sündenverbiesterte Menschenbild«, das Huizing beklagt (171), wird zwar auch in den übrigen Beiträgen zurückgewiesen (»Sündenverbiesterung« kritisiert auch Friedrich Lohmann, 43), aber den heuristischen Gewinn der Rede von der Sünde möchte man doch erhalten wissen (Lohmann, 69). So schreiben die Herausgeber in der Einleitung: »weder sollte klassischen theologischen Sündendiskursen vorschnell das Sterbeglöcklein geläutet, noch sollten die derzeit envoguen Schamdiskurse als ephemere Erscheinung abgetan werden« (22).

Jedoch stellt sich die Folgefrage, wer die theologische Deutungshoheit über den Menschen hat, die Dogmatik oder die Ethik? Was allein die Anzahl der ethischen Beiträge betrifft, scheint die Antwort entschieden. Daniel Weidner, der die literarische Aufbereitung von »Fragen der persönlichen Integrität und der Schuld« (138) rekonstruiert, und Regine Munz, die phänomenologische Anmerkungen zur Scham theologisch konturiert, sind Ausnahmen. Ansonsten beschäftigen sich die übrigen Autoren mit ethischen Fragen, zwei davon zur Angewandten Ethik (Christian Polke zum Strafrecht und Gotlind Ulshöfer mit der Transformation von Beschämung im Internet). Die meisten Beiträge jedoch verhandeln grundlagenethisch den erhellenden oder verdunkelnden Charakter der Rede von Sünde, Schuld und Scham.

Nach Ulrike Link-Wieczorek ist »in der bi-polaren Konzentration auf das Verhältnis von Gott und Mensch(heit) […] von der tatsächlichen Schuld […] gar nicht mehr die Rede« (95). Der Sündendiskurs verdunkelt also persönliche Schuld. Burkhard Nonnenmachers Insistieren, dass »Verzweiflung des Menschen am Gesetz unverzichtbar« sei (86) und dass deshalb ohne »Sphären des Unbedingtangegangenseins« »Gottes Offenbarung in Christus selbst vage wird« (85), richtet sich implizit auch gegen Huizing. Michael Roth will den moralischen und den Sündendiskurs im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung unterscheiden: Während die moralische Kommunikation ein ideales Selbst setze (34), erkenne das sündige Selbst, »wer wir ›eigentlich‹ […] sind« (36, Herv. M. R.). Doch heißt das, dass beide Kommunikationen unabhängig voneinander sind oder dass der Sündendiskurs das ideale Selbst der Moral zum Maßstab setzt, wie es Nonnenmacher nahelegt? Zumindest betont auch Lohmann: »Dennoch baut die Rede von Sünde auf natürlichen moralischen Überzeugungen auf.« (61)

Wie lässt sich Scham hier anthropologisch einfügen? Zu Recht betonen Klaas Huizing (169) und Alexandra Grund-Wittenberg (154), dass die Erzählung der Vertreibung aus dem Paradies keine Sündenfallgeschichte sei, wohl aber eine Geschichte über die Bedeutung der Scham für die menschliche Identitätsentwicklung. Menschen haben »einen Blick für den Blick des anderen« (Grund-Wittenberg, 155). Aber Grund-Wittenberg geht über die Einmütigkeit der Verfasser hinaus, wonach Scham mit einer Normverletzung verbunden sei (Lehmkühler, 186; Munz, 201; Huizing: »in einer Situation mit Menschen, die einem wichtig sind«, 175). Vielmehr entstehe Scham mit Sartre schon dadurch, dass ich durch den Blick irgendeines Anderen zum Gegenstand werde (144). Scham ist zwar eine notwendige Bedingung für die Erkenntnis von Gut und Böse (161), macht aber diese Erkenntnis nicht ihrerseits schon notwendig. Die Problematik der persönlichen Integrität ist dann als vormoralisch zu betrachten.

In manchen Beiträgen wird Scham wieder ins Gebiet der Moral gerückt, indem als Gegenbegriff zur Scham die Ehre gesetzt wird (Huizing 167; Lehmkühler 187). Zwar trifft auf beide Phänomene zu, dass sie eine Innen- und Außenseite haben (Ehre: Lehmkühler 185; Scham: Grund-Wittenberg 144; Munz 209). Aber unbeachtet bleibt m. E. bei dem angeblichen »Framing« von Scham/Ehre, dass ein Gefühl einem Status entgegengesetzt wird. Selbst wenn Scham m. E. zu Recht als »geteiltes Gefühl« verstanden wird (Hui-zing 176), so legt sie weder auf einen sozial geteilten Status fest (ich kann mich wegen meiner Figur schämen, auch wenn ich anderen gefalle), noch muss der geteilte Status »Ehre« auf einem geteilten Gefühl (Stolz?) beruhen. Indem hier kategorial Verschiedenes aufeinander bezogen wird, wird das vormoralische Phänomen der Scham ethisch eingeschränkt. Könnte die Debatte um »Sündenverbiesterung« und Schamethik also letztlich auch auf einem Kategorienfehler beruhen, weil die theologische Anthropologie innerhalb der Dogmatik ein vormoralisches Phänomen untersucht, das in der Ethik auf die Anerkennungsdynamik der Ehre zugespitzt wird? Dabei scheint dann auch der Ehrbegriff zu viel tragen zu müssen, was Lehmkühlers Beitrag zeigt, in dem Charakter, Beziehungen und Taten zugleich von Ehre abhängig sind (186.193), so dass dann »Ehre zu den ›Rechten des natürlichen Lebens‹« gezählt werden muss (192). Zwischen Anerkennungsformen von Ehre und Recht zu unterscheiden (Axel Honneth), hätte nicht nur einen entlastenden Effekt, sondern würde die Alternative Sünde/Schuld vs. Scham/Ehre als scheinbar entlarven.

Übrigens sehen die Herausgeber Pfleiderer und Evers den »Indifferenzpunkt« der Diskurse um Sünde, Schuld und Scham in der Kreuzestheologie (23). Dieser Aspekt wird in dem Buch aber kaum ausgeleuchtet (Lehmkühler 189).

Zwei Anmerkungen zu den Beiträgen der Angewandten Ethik: Polke verspricht, das Verhältnis von Schuld, Strafe und Sühne vornehmlich auf das Institut der Freiheitsstrafe zu beziehen (109). Was dann folgt, sind jedoch allgemeine, weithin bekannte restitutionstheoretische Thesen (Wiederherstellung sozialer Ordnung qua Strafe, 118), wobei Sühne die Funktion der Beendigung der Strafe hat (119). Die Freiheitsstrafe wird entgegen der Ankündigung kaum in den Blick genommen (122), schon gar nicht schamtheoretisch: Was bedeutet es für einen Straftäter, vor Blicken weggeschlossen zu werden oder nur dem permanenten Kontrollblick ausgesetzt zu sein? Und warum stehen Gefängnisse abseits der Ortschaften? Polkes These, dass das Recht als Ordnung nach einer Gewalttat nur »durch einen gewaltsamen, nämlich zwingenden Akt« wiederhergestellt werden könne (118), könnte sich auch schon im Gerichtsurteil erschöpfen, in dem der Angeklagte den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Polkes Voraussetzung, dass sich mit der Sühne »Restbestände des Vergeltungsgedankens« nicht radikal dekonstruieren ließen (117), weil man sonst – mit Ricœur – das Prinzip der Strafe eliminiere (118), ist ein Zirkelschluss, wonach Strafe nicht in Frage zu stellen ist. Hier trifft die »Sündenverbiesterung« auf den usus politicus legis.

Ulshöfers Beitrag zur Verschiebung von Identität und Scham im Internet führt zu zwei Forderungen, nämlich erstens »die technische Ebene« so zu gestalten, dass die online vermittelten »cul-tural imaginaries« ethisch begründet sind (238), und zweitens den »Umgang mit Sozialen Medien […] im Sinne einer ›community of love‹ neu gestalten zu lernen«, was auch die Institutionen betreffe (239). In beiden Forderungen wird zwischen Recht und Moral nicht hinreichend unterschieden (s. hierzu Polke 111).