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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

103-107

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Thümmel, Hans Georg

Titel/Untertitel:

Ikonologie der christlichen Kunst. 4 Bde. Bd. 1: Alte Kirche. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. XXIV, 323 S. m. Abb. Geb. EUR 128,00. ISBN 9783506792372. Bd. 2: Bildkunst des Mittelalters.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. XXIV, 323 S. m. Abb. Geb. EUR 128,00. ISBN 9783506792372. Bd. 3: Bildkunst der Neuzeit. Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2021. XII, 367 S. m. 144 Abb. Geb. EUR 129,00. ISBN 9783506780461. Bd. 4: Ostkirche. Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2022. X, 314 S. m. 162 Abb. Geb. EUR 129,00. ISBN 9783506780485. Gesamtausgabe: EUR 512,00. ISBN 9783506780379.

Rezensent:

Gustav A. Krieg

Manche Publikationen werden durch ihre Veröffentlichung zum Vermächtnis. Das hier vorgestellte Werk von Hans-Georg Thümmel gehört dazu. Es ist das Ergebnis langer Studien des vor eini-ger Zeit verstorbenen lutherischen Kirchen- und Kunsthistorikers (1932−2022) mit den Schwerpunkten Ältere Kirchengeschichte und Christliche Archäologie in Greifswald. Hier legte T. auch ihre Fundamente während seiner langjährigen Tätigkeit als Dozent, hier vollendete er sie als Ordinarius (ab 1990) und Emeritus.

Umfangsmäßig nähert sich die Publikation dem opus magnum. Anvisiert ist – nach Reflexionen zu den theologischen, kulturellen und sozialen Bedingungen christlicher Ikonologie überhaupt (Bd. I, 7 ff.25 ff.) – ein Überblick über ihre Geschichte bis heute. Das ist umfassend gemeint, da die Betrachtung auf »jede bildliche Darstellung mit christlichem Inhalt« abzielt (Bd. I, xiii): Die Darstellung reicht von der Sepulkralkunst als einem klassischen Thema der frühen Christenheit (Bd. I, 47 ff.), hin zur Kirchendekoration, zur Malerei, den Altarretabeln, Plastiken, dem kleineren Kultinventar (Reliquiare u. ä.) und bis zur Druck- und Buchkunst – vom Liber Pontificalis (Bd. II, 35 ff.) bis zur Biblia pauperum, von reformatorischen Flugblättern und Altarprogrammen (Bd. III, 73 ff.) zum industriell produzierten Andachtsbildchen im 19. Jh. und bis zur (westkirchlichen) Moderne (Bd. III, 253 ff.). Etwas zu kurz kommt die Glasmalerei, Bd. II, 505 ff., obwohl sie manches bietet. Die Epochen folgen nach traditioneller historischer Sequenzierung, Einführungen in die jeweiligen geistes- und kunstgeschichtlichen Zeitabschnitte fehlen nicht (wenngleich sie bisweilen stichwortartig wirken und für die Leserschaft mehr Vorkenntnisse erfordern, als erwartet werden kann). Ausführlich sind Bebilderung und Literaturangaben (obwohl nicht immer auf dem neuesten Stand, vgl. etwa zur Philosophie, wo die Literatur zum Überblickswissen für das Mittelalter Bd. II, 15, mit Étienne Gilson/Philotheus Böhner 1954 stehen bleibt).

In den letzten Jahrzehnten waren große ikonologische Publikationen protestantischer Autoren nicht übermäßig oft auf dem Büchermarkt. Seit den 1960er Jahren wurde darüber hinaus eine »Befreiung der bildenden Künste zur Profanität« proklamiert (K. Marti; H. E. Bahr) und ihr folgte rasch interkonfessionell eine wachsende Skepsis gegenüber unhinterfragten konfessionellen Traditionen mit ihrer Tendenz, sakrale Parallelgesellschaften zur neuzeitlichen Gesellschaft hervorzubringen. Allerdings folgte ebenfalls interkonfessionell immer häufiger die Beobachtung, dass diese Traditionen ohnehin an Wirkung verloren (Herbert Muck, Gegenwartsbilder und religiöse Vorstellungen des 20. Jh.s, Wien 1988) und in eine säkular dominierte Pluralisierung der Überzeugungen und Ästhetiken übergingen. Damit verbunden war eine Schließung kirchlicher Kunstinstitute, die auch T. nach 2006 miterlebte (Bd. I, xii). Demgegenüber ist die vorliegende Arbeit ein interkonfessioneller Kontrapunkt: Ein protestantischer Autor publiziert in einem Verlag, der sich bereits katholischerseits mit Werken dieser Art einen Namen gemacht hat (vgl. die Poetische Dogmatik von Alex Stock) und eine lutherische Landeskirche trägt zur finanziellen Förderung bei; die Leserschaft wünscht man sich ökumenisch.

Dass T. bereits von Konfession und Kunstinteressen her Schwerpunkte gesetzt hat, ist kein Fehler. Seine unterschiedliche Gewichtung des Materials ist überdies zum Teil sachlich plausibel: So entspricht das Übergewicht der Bände I−III und die zumindest für die Alte Kirche und das Mittelalter breite Darstellung gegenüber Bd. IV auch einer im Vergleich zu den Westkirchen geringeren ostkirchlichen Teilhabe an ikonologischen Entwicklungen in der Sakralkunst (obwohl Wandfresken im Vergleich zur Ikonenmalerei mehr Beachtung verdient hätten). Erinnert sei z. B. an die orthodoxe Zurückhaltung gegenüber der Plastik gegenüber dem Westen (Ausnahmen kennt das aufgeklärt-petrinische Petersburg, Bd. IV, 264) und die Skepsis gegenüber Innovationen im Vergleich zu Stil-Kanonisierungen. Ein anderer Grund besteht darin, dass die Ostkirchen partiell ästhetisch immer noch eine westkirchliche terra incognita sind, das Feld einiger Konfessionskundler (als ästhetisches Niemandsland genannt seien die Thomaschristen). Umgekehrt zeigt T. für Bd. I−III besondere Liebe zum Detail, vor allem Band I−II. Das betrifft nicht nur die christliche Kunst als Reflex einer mehr oder weniger elaborierten Weltsicht (Philosophie, die biblische Hermeneutik der Alten Kirche, Theologie/Liturgie und Volksfrömmigkeit im Mittelalter) bzw. die behandelten (und reich illustrierten) Bildträger und ikonologischen Themen (bis zum abstrakten Symbol, Bd. I, 193 ff.; Bd. II, 309 ff.). Ähnlicher Art ist T.s Eintritt in die Neuzeit Bd. III mit Reformation und Barock. Erfrischend ist, dass er sich zwar zunächst zu einer Luther-Eloge versteht (Bd. III, 18 ff.), aber zu Recht Luthers unmittelbaren Äußerungen zur Bildkunst wenig Gewicht für die Genese und Geschichte der protestantischen Ikonologie zumisst (Bd. III, 31 f.) bzw. sein pädagogisches Interesse hervorhebt und sogleich auf Lukas Cranach d. Ä. als Reformations-Interpreten rekurriert (33 ff.) –, auch in etlichen Einzelinterpretationen (Bd. III, 73−130). Reich bleibt weiterhin das Material – zwischen den »klassischen« (zum Teil interkonfessionell aufgeführten) Altarbildern und ihrer Sys-tematik im 16.−18. Jh. (118 ff.) bis zu den Bildprogrammen in der Kleinkunst – wenngleich die Darstellung seit dem Ende des 30-jährigen Krieges zunehmend an Materialreichtum und Tiefenschärfe verliert. Wichtiges liefert aber auch das Detail zum 19./20. Jh. in Bd. III. Zur Darstellung kommen nicht nur Gestalten, die man selbst in der Blütezeit der Romantik- bzw. Historismuskritik und der kompromisslosen »Moderne« bisweilen nur nolens volens mit sich schleppte (Thorvaldsen; die Nazarener usw., 263 ff.); es er- folgt auch eine vorurteilslose Annäherung an den Späthistorismus. Auch die Kirchenmaler der Provinz werden gewürdigt (s. zu Mecklenburg, Bd. III, 298 f.), ebenso die Kunstvereine, 283 ff. und zumindest exemplarisch Produzenten von Trivialkunst (Bd. III, 293/294). Auf andere Weise erweitert T. den Sinn für die frühe Moderne nach 1918: Zwar liegt auch hier sein Schwerpunkt auf dem Bekannten (Grosz, Barlach, Chagall usw.); er behandelt aber auch weniger bekannte Sakralkunst aus der ehemaligen DDR. Wenn T. sich im Übrigen für Bd. IV für den westkirchlich bekanntesten Kernbereich in der Darstellung entscheidet – d. h. die »byzantinische« Welt bis ca. 1453, mit Schwerpunkt im Bilderstreit, im slawischen Raum weitestgehend für Russland bis zu Peter I. –, mag man hinzufügen, dass für die Epochen danach in der Orthodoxie – unabhängig von den politischen Katastrophen 1918−1989 und nicht nur in der früheren Sowjetunion – ein ikonologischer Neo-Historismus um sich gegriffen hat, den vorurteilslos zu kommentieren tatsächlich schwerfällt, zumal er von den orthodoxen Teilkirchen im alten Europa zum Teil sogar synodal sanktioniert worden ist. Aber auch T.s Sichtweisen auf das von ihm ausgewählte Material sind hilfreich (so zur Ikone Bd. IV, 11 ff. und zum Bilderstreit).

Vielleicht zwangsläufig gehört es allerdings zu einer so individuellen – zum Teil unter Widrigkeiten entstandenen – summa iconologica wie der vorliegenden, dass sie etwas Fragmentarisches hat. Das opus perfectum gibt es ohnehin selten. Nur am Rande erwähnt seien hier gelegentliche editorische Schwächen. Ein Beispiel liefert die Darstellung der Malerfamilie Cranach (Bd. III, 33 ff.): So ist die Differenzierung zwischen der Autorschaft von »Lukas Cranach d. Ä.« und »d. J.« bisweilen undeutlich – selbst wenn T.s Interesse auf einem Gesamtüberblick über die Anfänge lutherischer Ikonologie liegt, d. h. Unschärfen im Detail nicht unbedingt ins Gewicht fallen. Nicht erleichtert wird das Verständnis des Abschnittes dadurch, dass L. Cranach d. Ä. im Register fehlt. Ganz gelegentlich sind Definitionen unzutreffend (Bd. II, 279 zum Thema der Bildprogramme in Kulträumen die Definition des Verhältnisses von »Kathedrale« und »Großkirche«: Die Funktionsbestimmung von Kirchbauten kann ja auch Differenzierungen in den Bildprogrammen bedeuten.) Bisweilen ist auch von inhaltlichen Unschärfen zu reden: So ist zwar für Bd. II die Differenzierung in der Scholastik (Bd. II, 15 ff. und 232 ff. als Scholastik »I« und »II«, d. h. hin auf die Entwicklung zu einer neuzeitlich-empirischen Denkform, auch zum gotischen »Naturalismus«, Bd. II, 248 ff.) nützlich, bisweilen zu generell beschrieben aber z. B. die konfessionsgeschichtliche Vielfalt der Reformationszeit, da so auch das ikonologische Detail unscharf bleibt. Ob es z. B. zureicht, unter dem Thema »Barocker Sensualismus und Verinnerlichung« Rembrandt und Rubens nebeneinander zu behandeln (Bd. III, 163 ff.), mag man fragen: Das gegenreformatorische Antwerpen und das calvinistische Amsterdam sind ja schon deshalb ästhetisch sehr verschieden, weil sie es theologisch sind (zumal Rubens auch ein gegenreformatorischer »Kirchenmaler« – Bd. III, 166 – gegenüber dem »bürgerlich« gestimmten Rembrandt war). Auch die von T. vorgestellten Bildprogramme hätten durch konfessionsgeschichtliche Differenzierungen präziser sein können (vgl. seine Annäherung an katholische Barockaltäre, Bd. III, 188). Problematischer ist, dass die Schwerpunktsetzungen T.s im Verlauf der Darstellung zu wachsenden thematischen bzw. inhaltlichen Verengungen führen, geographisch wie epochal. Nun ist dies auch der langjährigen Entstehung des Werkes geschuldet, ebenso den politischen und zeitlichen Umständen und der Biographie T.s (vgl. Vorwort Bd. I, xii). Hier zeigt die Arbeit ihre Situationsgebundenheit. Sie motiviert aber ebenso zum Weiterdenken, über die Umstände ihrer Entstehung hinaus.

Wohl sind die Engführungen in der Darstellung nicht überall gleichgewichtig, etwa im Blick auf den oben erwähnten ostkirchlichen Neo-Historismus nach 1989. Auch für Bd. I und II wird man geographisch und epochal mit ein paar Ausnahmen wenig vermissen – wenngleich umgekehrt die altkirchliche Sepulkralkunst in Bd. I zu großen Raum einnimmt. Für Bd. II wäre zudem eine differenziertere Aufgliederung der beginnenden »nationalen« Entwicklungen nützlich gewesen (wie sie bei T. ansatzweise für die Karolingerzeit vorliegt, s. Bd. II, 63 ff.): So sind zwar das Heilige Römische Reich, Italien und Frankreich ikonologisch ausführlich bedacht, aber die iberische Halbinsel nur peripher und das mittelalterliche England so gut wie nicht. Problematisch ist auch für die Genese der protestantischen Ikonologie die Fokussierung auf den lutherischen Bereich. Denn zwar trifft zu, dass unter den Reformationskirchen anders als die »reformierten« Protestanten das Luthertum in seiner Neigung zu »katholisierender« Hochkirchlichkeit auch ikonologisch noch Sakralität im herkömmlich westeuropäischen Sinn gepflegt hat – wenngleich gegenüber dem Katholizismus reduziert, theologiegeschichtlich aber vielleicht unbefangener als Luther selbst. Andererseits hat schon Luther eine Entsakralisierung der christlichen Ikonologie eingeleitet (wie er auch indifferent gegenüber dem geistlichen Bild als ästhetischer Größe war, Bd. III, 31, aber Sinn hatte für seinen didaktischen Wert); erst recht radikalisierten andere Reformatoren diesen Prozess (bis 1662 auch das zeitweilig puritanisch dominierte England). Dass in der Folgezeit die Bildkunst auch im reformierten Raum nicht verschwunden ist, sondern als Andachtsbild überlebt hat, hat T. an Rembrandt dargelegt (163 ff.); bedauerlich ist freilich, dass er im Protestantismus mit der »Verbürgerlichung« der Ikonologie die sich bald zusätzlich abzeichnende (zumindest partielle) Nationalisierung nicht weiter berücksichtigt hat. Bereits das lutherische Deutschland des Barock gehört hierher – wo im sächsischen Dresden z. B. der städtische Prestigebau der lutherischen Frauenkirche die römische Hofkirche kontrapunktiert, die schon außen die übernational-tridentinische Heiligenwelt offensiv präsentiert. Eine noch präzisere Deutung fände von hier aus die Bildsprache des Berliner Domes (Bd. III, 288 f.), und z. B. diejenige der Gedächtniskirche in Speyer – von T. nicht genannt – käme ins Blickfeld. Außerhalb des deutschsprachigen Bereichs gehörte z. B. auch der Anglikanismus hierher, seit dem 19. Jh. ikonologisch eminent produktiv.

Die zuletzt formulierten Anfragen bzgl. einer regionalen und materialen Verengung des Ansatzes setzen sich für die Zeit nach 1918 fort, obwohl T. prinzipiell bei der Sache bleibt. Sie betreffen bereits Europa, wo der Schwerpunkt – trotz Marc Chagall – nun endgültig der deutschsprachig-protestantische Raum ist. Gerade aber bei dem Interesse T.s an der frühen Moderne wäre z. B. das katholische Frankreich seit ca. 1920 ebenso aufschlussreich, zumal die dort wirkenden Klassiker – z. B. Manessier, Lurçat, Leger – rasch zum internationalen Repertoire der Sakralkunst gehörten. Aber die neuere Zeit hat auch in Skandinavien Spuren hinterlassen, und zwar in wichtigen Beispielen zwischen dem Jugendstil und den 1960er Jahren. Zu diskutieren ist schließlich die Entwicklung außerhalb Europas. Denn zwar war allüberall Westeuropa ikonologisch bis in die 1920er Jahre der religiöse und ästhetische Maßstab (und somit repräsentativ), aber das Bild hat sich seit den 1920er Jahren ikonologisch geändert, zumal in Asien und Afrika – während umgekehrt T.s Skepsis im Blick auf das zunehmend säkulare Westeuropa seit dem 19. Jh. plausibel ist (Bd. III, 327 ff.). Bei seinen Sichtweisen auf die außereuropäische christliche Ikonologie, wie sie sich in den letzten Dekaden herausgebildet hat, wird er jedoch selbst zum Opfer seiner Skepsis für Westeuropa, da er die Beiträge etwa Afrikas oder Asiens – wie sie längst präsent sind (Steenbrink, Sundermeier, Takenaka u. a.) – als wenig hilfreich empfindet (Bd. III, 326). Die Frage, ob von den jungen Kirchen auch hier Impulse auf die alten Kirchen ausgehen könnten – im Sinne einer ästhetischen reverse mission wie längst in der allgemein-theologischen Diskussion oder der Musik – bleibt aber für Westeuropa (abgesehen vom religiös und konfessionell multikulturellen England) vorläufig offen. Allerdings sind auch die Traditionen, von denen christliche Ikonologie außerhalb Europas neue Sichtweisen öffnet, nicht immer sogleich mit denen Europas kompatibel. Ein inspirierender Beitrag zur neueren Diskussion um die ästhetischen Facetten des Christentums bleibt die Arbeit aber allemal.