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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

85-86

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Willi, Regina

Titel/Untertitel:

Mutter – Gefährtin – Jüngerin. Maria im Spiegel patristischer und scholastischer Schriftauslegung.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2021. 368 S. = Mariologische Studien, 29. Kart. EUR 34,95. ISBN 9783791733036.

Rezensent:

Volker Leppin

Das Vorwort dieses Buches ist ein bewegendes Dokument menschlicher Zuwendung in dem immer hektischer werdenden Betrieb der modernen, ökonomisierten Universität. Marianne Schlosser, die Leiterin des Fachbereichs Theologie der Spiritualität an der Katholisch-Theologischen Fakultät Wien, gedenkt darin ihrer verstorbenen Mitarbeiterin Regina Willi. Im April 2019 hatte sie das Manuskript für das nun vorliegende Buch »inhaltlich fertiggestellt« (13). Es war als Habilitationsschrift gedacht, W. konnte die letzten Korrekturen aber selbst nicht mehr fertigstellen. Nach kurzer, schwerer Krankheit ist sie am 8. Juni desselben Jahres verstorben. Die Mitarbeitenden des Fachbereichs gaben ihr durch das Versprechen, die Arbeit zu vollenden, einen »Lichtblick in den letzten schweren Wochen« (13). Und sie haben ihr Versprechen gehalten.

So darf man dankbar sein, dass nun der Forschung eine umfangreiche Studie zur Verfügung steht, deren Untertitel vor allem eine Frage aufwirft: Wie soll man diese immense Stoffmenge bewältigen? W. gibt hierzu, auch in dem Abschnitt »Die Wahl der Texte« (45 f.), wenig Auskunft – wohl auch deswegen, weil das Buch nicht monographisch aus einem Guss entworfen wurde, sondern sich hier die »versammelten mariologischen Forschungen« (13) der Autorin aus den vergangenen Jahren finden. Ein Vergleich der Kapitelüberschriften mit dem Literaturverzeichnis bestätigt, dass die Buchabschnitte zum Teil an schon vorhandene Veröffentlichungen anknüpfen (der hier zu ergänzende Aufsatz »Maria als ›Mutter der Einheit‹ in der Perspektive des Johannesevangeliums«, dessen Überschrift Kapitel IV entspricht, ist postum in dem Sammelband »Maria, ›Mutter der Einheit‹«, Regensburg 2020, erschienen). Neben der Einleitung ist vor allem das große Kapitel VI zur Geburtsgeschichte Jesu ein originärer Beitrag.

Dass die Studien folglich die Thematik nicht in der ganzen Breite abdecken, legt sich nahe. Blickt man auf die im eigentlichen Sinne exegesegeschichtlichen Beiträge darin, so behandelt W. umfangreich die marianische Deutung des Hohenliedes, die Deutung der mulier fortis in Prov 31,10, das Johannesevangelium sowie Lk 2,8–20. Hier sei nur auf wenige empfindliche Leerstellen hingewiesen, etwa gerade auch mariologisch heikle wie die Ableitung von Jesu Davidsohnschaft über Josef in Mt 1,16 oder Jesu harsche Worte zu seiner Familie in Mk 3,31–35, aber auch das bedeutsame Magnificat oder eine so zentrale Denkfigur wie die Eva-Maria-Typologie.

Die Entstehung macht nicht nur diesen selektiven Zugang verständlich, sondern auch, warum das Buch methodisch heterogen ist. Das gilt zunächst einmal für den Aufbau wiederum der unmittelbar exegesegeschichtlichen Kapitel. Kapitel II über das Hohelied bietet ein faszinierendes Panoptikum mit der Heranziehung verstreuter, vielfach wenig gelesener Kommentarliteratur, auch zu einzelnen Versen (Hugo von St. Viktor zu Hld 4,7 [78 f.]). Bernhard von Clairvaux und die anderen Zisterzienser erscheinen in diesem legitimerweise ganz auf die Mariologie ausgerichteten Zugriff geradezu als negative Abweichungen, weil bei ihnen die mystische Deutung überwiegt (84 f.). Gerade diese sonst in der Mediävistik eher ungewöhnliche Akzentsetzung ermöglicht interessante Einsichten in die aus der Außensicht sonst schwer einzuordnende Verschiebung der Rolle Mariens von der Braut des Vaters zur Braut Christi (90).

Eine ähnlich stupende Gelehrsamkeit zeigt sich in Kapitel III über Prov 31,10. Hier allerdings ist es naheliegenderweise weniger Kommentarliteratur, die das Kapitel beherrscht. An den einzelnen Auslegungen vom Paidagogos des Klemens von Alexandrien über Beda Venerabilis bis hin zu den Collationes de septem donis Spiritus Sancti Bonaventuras aus dem 13. Jh., hebt W. die aus dem letztgenannten Titel naheliegenden Bezüge auf die Gaben des Geistes, insbesondere Stärke und Weisheit, sowie die Vorbildhaftigkeit Mariens »für die gottgeweihten Jungfrauen […], aber auch für jede christliche Frau, ja für jeden Christen«, hervor (118). Es würde sich gewiss lohnen, diesen Beobachtungen noch einmal unter Gesichtspunkten der gender-Geschichte nachzugehen. Ähnlich beeindruckend und umfassend ist Kapitel VI zu Lk 2,8–20 gelagert. W. bietet hier gleich zwei exegesegeschichtliche Durchläufe, einen zum Motiv der Hirten und einen zu Maria als »Zeugin von Anfang an« (317) – letzterer Durchgang reicht dann weit über das Mittelalter hinaus und gipfelt in der unkommentierten Zitation der Enzyklika Redemptoris Mater von Johannes Paul II. (328).

Ganz anders gelagert ist Kapitel IV über das Johannesevange-lium. Es konzentriert sich auf die Rolle Mariens als »Mutter der Einheit«. Letztlich muss man fragen, ob hierfür der Begriff der »Exegesegeschichte« noch passt. W. hat ihre wissenschaftliche Laufbahn mit einer Dissertation zum Propheten Jeremia als Exegetin begonnen. Im Grunde ist auch dieses Kapitel ein exegetisches, freilich in dem Sinne, den W. in ihrer Einleitung entfaltet hat, in welcher sie die Skepsis des Wiener Alttestamentlers Ludger Schwienhorst-Schönberger gegenüber einem umfassenden Gebrauch der historisch-kritischen Exegese affirmativ aufgenommen hat (45). Das bedeutet dem Selbstverständnis nach keine pauschale Absage an diese akademisch etablierte Form der Exegese, wohl aber eine Weiterführung im Sinne darüber hinausreichender Schriftsinne, wie sich besonders dort zeigt, wo W. ahistorisch »die« Kirche als Subjekt in die Exegese einführt (153). Eben dieser Zugriff begründet wohl auch den Zusammenhang mit den anderen Studien, insofern sich W.s Vorgehen hier als Aufnahme der traditionellen Exegese aus Antike und Mittelalter verstehen lässt. Hierzu gehört wohl auch, dass, dann doch, überraschenderweise im Zusammenhang der Deutung des Johannes-evangeliums, das lukanische Magnificat begegnet, und zwar in der Deutung Joseph Ratzingers (231).

Mit diesem Namen ist nun auch ein impliziter Fluchtpunkt des Werkes genannt: Ein Kapitel (V) befasst sich mit der mariologischen Auslegung der Weisheit bei Ratzinger und Leo Scheffzyk, ein anderes (VII), zurückgehend auf einen italienischsprachigen Kommentar zu dem Katechismus der katholischen Kirche, den Ratzinger inauguriert hat, mit dessen marianischen Passagen.

Wer dieses Buch mit dem vom Untertitel angedeuteten historischen Interesse liest, wird in diesen Partien weniger angesprochen. Sie sind für das Gesamtverständnis der Autorin allerdings konstitutiv. Auch wenn sie in ihrer methodischen Einleitung wenig explizit in der Benennung eigener Positionen ist, lässt der Duktus doch erkennen, dass ihre Arbeit die historischen Untersuchungen in den Dienst einer durch das Zweite Vatikanum, insbesondere die Dogmatische Konstitution Dei Verbum geprägten römisch-katholischen Hermeneutik stellt. Für diese zitiert W. dann auch in der Zusammenfassung ihrer Überlegungen wiederum, nun unter seinem Papstnamen, Ratzinger und dessen Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini: »Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese.« (40)