Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

75-78

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Spehr, Christopher, u. Harry Oelke [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Das Eisenacher ›Entjudungsinstitut‹. Kirche und Antisemitismus in der NS-Zeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 395 S. m. 4 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 82. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783525557976.

Rezensent:

Martin Ohst

Achtzig Jahre nach dessen Gründung fand in Eisenach, seit 1939 Sitz des »Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, im September 2019 eine groß angelegte wissenschaftliche Tagung statt; der hier anzuzeigende Band dokumentiert die bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vorträge. Nun dürfte die Erforschung des Instituts und seiner Arbeit mit Oliver Arnholds 2010 erschienener zweibändiger Monographie (noch einmal komprimiert 2020) zu einem gewissen Abschluss gelangt sein.

Auf die dorthin führende Forschungsgeschichte wirft deren wichtigste Protagonistin, die US-amerikanische Judaistin Susan-nah Heschel, kritisch pointierende Schlaglichter (331–357) – es empfiehlt sich, diesen vorletzten Aufsatz des Bandes als ersten zu lesen, werden doch in ihm besonders deutlich die kategorialen Leitgesichtspunkte markiert, die auch in den anderen Beiträgen erkenntnis- und urteilsleitend sind. Der nationalsozialistische Vernichtungs-Antisemitismus habe im herkömmlichen, seit dem I. Weltkrieg noch einmal verstärkten Antisemitismus seine Vor-aussetzung und seinen Resonanzboden gehabt, und es sei der Antisemitismus gewesen, der den Nationalsozialismus auch und gerade für evangelische Deutsche attraktiv gemacht habe – das »Eisenacher Institut« und seine Mitarbeiter standen in dieser Hinsicht nicht singulär da, sondern stachen lediglich durch ihre Entschiedenheit hervor, mit der sie allgemein virulente antisemitische Ressentiments artikulierten. Genau diese Konfiguration, in der sich Deutsche Christen und die Glieder der Bekennenden Kirche – mit einzelnen rühmlichen Ausnahmen – allenfalls graduell voneinander unterschieden, sei in der Kirchenkampfgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit verleugnet worden: Sie habe primär den Kampf der BK um die geistige und institutionelle Selbständigkeit der evangelischen Kirche positiv bewertet und ihn zugleich apologetisch als Akt des Widerstandes gegen die NS-Diktatur stilisiert; so habe sie es versäumt, den Antisemitismus auch dezidiert nicht-deutschchristlicher Evangelischer als deren Gemeinsamkeit mit dem Nationalsozialismus zu thematisieren – und damit unkritisch eben jenen Antisemitismus fortgeschrieben (vgl. 335).

Selbst dem Bonhoeffer-Freund und -Biographen Eberhard Bethge habe erst ein USA-Aufenthalt in der Mitte der 70er Jahre die Augen für die wahre Problemkonstellation geöffnet: »… und jetzt erst begann Bethge zu realisieren, dass die Gretchenfrage für die christliche Theologie nicht die Her-ausforderung durch Säkularismus und Liberalismus gewesen sei, sondern die Ermordung von sechs Millionen Juden durch Christen in Europa« (337). Auf breiter Front sei dieser apologetische Ansatz der Geschichtsschreibung erst durchbrochen worden, als Forschungsansätze aus den USA, Kanada und Skandinavien, die das Geschick jüdischer Menschen und das gegen sie verübte Unrecht zur eigentlichen Leitperspektive und die Stellungnahme dazu zum zentralen Bewertungskriterium erhoben, auch in Deutschland aufgenommen worden seien; von hier aus habe dann auch die Erhellung der Vorgeschichte des im ganzen deutschen Protestantismus virulenten Antisemitismus ihren Ausgang genommen. Auch auf ihre eigene Rolle in diesem Paradigmenwechsel geht Frau Heschel ein (344–346).

Von hier aus erschließt sich auch der Gesamtaufriss des Bandes, der in vier thematische Blöcke gegliedert ist. Der erste ist der Vorgeschichte und den Kontexten des Instituts gewidmet. Uwe Puschner stellt völkische Weltanschauungs- und Religionskonzepte in der »langen Jahrhundertwende« vor (39–64). Wolfgang Benz (65–81) zeigt, wie Chamberlain und andere »Architekten des modernen Antisemitismus« die NS-Ideologie angebahnt haben; bemerkenswert ist seine sehr differenzierte Darstellung Paul de Lagardes (69 f.). Gewohnt nüchtern, präzise und zuverlässig führt Thomas Martin Schneider (83–98) in die verwickelte Geschichte der unterschiedlichen Facetten der DC ein; besonders wertvoll ist die Graphik auf S. 94, die den Ort des Eisenacher Instituts in diesem Gewirr verdeutlicht. Dirk Rupnow (99–116) zeichnet mit der »Judenforschung« im Dritten Reich das bedrückende Porträt einer sich zugleich lustvoll und berechnend prostituierenden Wissenschaft: »Objektivität wurde ergänzt durch Engagement, Erfahrung und Erleben« (109); »Die offensichtliche Spannung des Nebeneinanders von wissenschaftlicher Forschung und propagandistischer wie politischer Praxis wurde parallel zu den Abgrenzungsdiskursen mit dem Selbstverständnis als ›kämpfende Wissenschaft‹ offensiv zu überbrücken versucht« (ebd.).

Der zweite Block von Studien stellt das Institut und seine Arbeit selbst in den Mittelpunkt. Christian Wiese (119–154) schildert zunächst, wie Walter Grundmann, der spiritus rector des Eisenacher Instituts, versucht hat, Jesus und das frühe Christentum mit his-torischen Gewaltakten aus der jüdischen Volks- und Religionsgeschichte herauszulösen und dieses geschichts- bzw. religionspolitische Projekt immer penetranter im Sinne eines »›Kriegseinsatzes der deutschen Religionswissenschaft‹« (132) anpries. Vor diesem Hintergrund erinnert er an jüdische Einsprüche gegen solche Ablösungsbestrebungen: Leo Baeck maß dem Christentum »in Jesus Anteil an der religiös-kulturellen Sendung des Judentums in der Geschichte« zu, aus dem es seinerseits »eine welthistorische Sendung, Legitimität und Wahrheit erhalte« (137); einen anderen Akzent setzte Raphael Straus, der Christentum und Judentum durch ihren gemeinsamen Rückbezug auf das Alte Testament in eine Verantwortungsgemeinschaft im Dienste an der Humanität gestellt sah: »Hätte Grundmann das zur Kenntnis genommen, so hätte er darin allerdings lediglich die Bestätigung seines Vorwurfs gesehen, das Judentum nach Mendelssohn wolle das christliche Europa der Macht eines geistig-kulturellen jüdischen Proselytismus unterwerfen« (137).

Oliver Arnhold (155–176) charakterisiert knapp und präzise das Arbeitsprogramm des Eisenacher Instituts und zeigt, wie es auch von Seiten radikaler Vertreter der NS-Ideologie unter Feuer geriet. Die hielten nämlich das Programm der ›Entjudung‹ des Chris-tentums für unaufhebbar selbstwidersprüchlich: »Wenn Ihr das Christentum entjuden wollt, bleibt vom Christentum überhaupt nichts, aber auch gar nichts übrig.« (167) Nach dem Kriege haben Grundmann und andere ihre Arbeit im Eisenacher Institut mit apologetischen Motiven gerechtfertigt: Sie hätten mit ihrer Dis-tanzierung von dessen jüdischen Wurzeln das Christentum in Deutschland vor dem nationalsozialistischen Vernichtungsfuror retten wollen (vgl. die 169 f. abgedruckte Denkschrift Georg Bertrams). Diese Begründungsfigur, die auch in der seriösen Kirchenkampfgeschichtsschreibung fortgewirkt hat, erklärt Arnhold mit Susannah Heschel zum »Mythos« (170). Man müsse hier »theologisch von einem ›falschen Bewusstsein‹ sprechen, da die jüdische Wurzel für das Christentum konstitutiv ist und demnach eine Weiterexistenz nach Kappung dieser Wurzel nicht mehr denkbar ist« (172). Historisch ist gegen diesen Satz nichts einzuwenden; seine kategoriale Reichweite wäre allerdings religionsphilosophisch genauer zu bestimmen und zu diskutieren.

Matthias Morgenstern (177–195) untersucht das Beziehungsgeflecht, zu dem Walter Grundmann durch seine Leipziger und Tübinger Lehrer Gerhard Kittel und Adolf Schlatter Zugang bekam. Zu ihm gehörten auch Juden, von denen Kittel und Schlatter sich wertvolle gelehrte Informationen und Zuarbeiten liefern ließen. Kittel stand auch mit Martin Buber im Gedankenaustausch. Grundmann hat diese Kommunikationswege allerdings nicht weiter beschritten, sondern sich, wie später dann auch Kittel, in starren Abwehrhaltungen versteift – anders als der Tübinger Indologe Jakob Wilhelm Hauer, der Gründer einer nachchristlich sein wollenden »Deutschen Glaubensbewegung«, der mit Buber im respektvollen Austausch blieb. Späterhin haben sich Deutsche Christen darauf berufen, sie hätten ihr Wirken als Abwehr gegen eben jene Deutsche Glaubensbewegung gerichtet – Morgenstern bewertet das als »apologetische Konstruktion christlicher Theologen nach 1945« (192).

Einen Wechsel der Blickrichtung vollzieht Siegfried Hermle (197–222). Er untersucht die Rezeption der Aktivitäten des Eisena-cher Instituts in der Zeitschrift »Junge Kirche« und in den Leitungen »intakter« Landeskirchen. Das Ergebnis ist mehrschichtig: Während an der Programmatik des Instituts keine prinzipielle Kritik geäußert wurde, schlug ihm kirchenpolitisch motiviertes Misstrauen entgegen, und seine wichtigsten Publikationen, der als »Botschaft Gottes« bzw. »Volkstestament« bezeichnete Auszug aus dem Neuen Testament und das Gesangbuch, stießen auf eindeutige, theologisch begründete Ablehnung.

Den dritten Block, die Reihe der »Fallstudien«, eröffnet Mirjam Loos (225–233). Sie führt vor, dass der Antibolschewismus, der seit den frühen 20er Jahren im kirchlichen Protestantismus (wie im Katholizismus) weithin Konsens war, keineswegs durchgängig und zwangsläufig die antisemitische Konnotation aufwies, mit der ihn die nationalsozialistische Agitation versah. Aus Dirk Schusters Untersuchung (236–243) wird deutlich, wie in der Arbeitsprogrammatik des Eise-nacher Instituts die theologische bzw. religionsphilosophische Perspektive der Unterscheidung von Christentum und Judentum rassentheoretisch sowie biologistisch-deterministisch verbogen wurde.

Elisabeth Lorenz (245–256) stellt den Bibelauszug des Eisenacher Instituts, also die »Botschaft Gottes«, vor und zeigt anhand exemplarischer Analysen, welche Absichten hier mit welchen Mitteln verfolgt wurden. Rebecca Scherf (257–266) erinnert an einen kuriosen Fall: Bei einem bayerischen Dekan tauchte 1945 ein Mann auf, der behauptete, er sei Pfarrer, habe lange in Südamerika gearbeitet und sei im KZ Dachau inhaftiert gewesen – nun suchte er um Verwendung in der Bayerischen Landeskirche nach. Seine Angaben ließen sich nicht verifizieren, und so plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand er von der Bildfläche. Bedeutsam ist dieser Fall als Symptom: Die KZ-Haft wurde zum »Aushängeschild« (265): »Die [in KZs inhaftierten] evangelischen Geistlichen standen in einer Linie mit den Verfolgten und Märtyrern der Alten Kirche […]. Diese Sukzession betraf aber nicht nur den einzelnen Geistlichen, sondern die gesamte BK, für die die Häftlinge stellvertretend im KZ litten.« (265)

Diese Studie bildet schon den Übergang zum vierten Block, in dem es um »Wirkungen und Aufarbeitung« geht. Zwei Aufsätze erhellen den Weg von Mitarbeitern des Eisenacher Instituts in der SBZ/DDR: Michael Weise (269–286) dokumentiert in fünf Fallstudien die Erklärungs- und Verteidigungsstrategien von Institutsmitarbeitern in kirchlichen (bzw. im Falle des Jenaer Systematikers H.-E. Eisenhuth akademischen) Entnazifizierungsverfahren: Sie beriefen sich auf ihre Absicht, die Kirche vor dem Vernichtungswillen der durchgängig radikal christentumsfeindlichen nationalsozialistischen Bewegung zu schützen; deswegen hätten sie eben Teilkompromisse mit dem Regime eingehen müssen. Bis auf einen Fall hatten sie mit dieser Taktik Erfolg; auch späterhin haben sie sich von diesen Einlassungen nicht distanziert, sondern sie vielmehr fortgeschrieben.

Einer anderen, jüngeren Generation gehörte Herbert von Hintzenstern (1916–1995) an. Promoviert mit einer Arbeit, die christliche Motive im Werk von Geistesgrößen, die die NS-Bewegung zu ihren Ahnen zählte, heraushob, wurde Hintzenstern Assistent bei Walter Grundmann und wuchs so mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in dessen Eisenacher Institut hinein. Nach dem Krieg hat er viel für die Pressearbeit der thüringischen Kirche und für die Territorialkirchengeschichtsschreibung geleistet; im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat er sich mehrfach zu seiner Rolle in der NS-Zeit geäußert, aber in seinen sehr bedacht formulierten Äußerungen kein Bekehrungsnarrativ ausgearbeitet, sondern eher Kontinuitäten eines unabhängigen Denkens konstruiert, das ihm Konflikte mit dem NS- wie mit dem SED-Regime eingetragen habe.

Stephan Lincks Aufsatz über die verschiedenen Weisen des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in den Landeskirchen Schleswig-Holsteins und Eutins einerseits, Lübecks und Hamburgs anderseits (305–329) ist insofern lose mit den anderen Beiträgen verbunden, als der skandalumwitterte Kieler Systematiker Martin Redeker (1900–1970) externer Mitarbeiter des Eisenacher Instituts war (313–317, bes. 314). Ein solches Bindeglied zum titelgebenden Gegenstand des Bandes sucht man in Veronika Albrecht-Birkners (sehr lesenswerter!) vergleichender Studie über das christlich-jüdische Verhältnis in beiden deutschen Staaten (359–385) vergeblich.

Den Herausgebern und Autoren schuldet der Leser Dank für eine Fülle von Informationen zu den Kontexten eines Kapitels von Wissenschaftsgeschichte, das reich ist an Zeugnissen von Verblendung und Verbohrtheit, von Konformismus, Karrierismus und Opportunismus. Allerdings fehlt das Gegengewicht der genuin wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive: Bezeichnend ist die Leichtigkeit, mit der Susannah Heschel Roland Deines’ Forschungsergebnisse hinsichtlich des Ursprungs der Debatte über die Herkunft Jesu vom Tisch wischt (339).