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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

56-58

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nickel, Jesse P.

Titel/Untertitel:

The Things that Make for Peace. Jesus and Eschatological Violence.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XVI, 309 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 244. Geb. EUR 86,95. ISBN 9783110702415.

Rezensent:

Peter Müller

In der von N. T. Wright betreuten Dissertation geht es Jesse P. Nickel um den Nachweis der grundlegenden Gewaltlosigkeit Jesu vor dem Hintergrund einer eschatologisch motivierten Gewaltbereitschaft zur Zeit des Zweiten Tempels, und dies in ständiger Abgrenzung gegenüber der These, dass Jesus einen gewaltsamen Beginn der Gottesherrschaft vertreten oder sogar dazu aufgerufen habe (»seditious Jesus hypothesis«). Dieser These zufolge hätten die Evangelien den »revolutionären Jesus« aus theologisch-apologetischen Gründen verschleiert, aber nicht alle Spuren von ihm tilgen können, sodass ihre Jesuserzählung inkonsistent sei. Diese These sei eine späte Folge von A. Schweitzers Gleichung eschatologisch = jenseitig, die ein adäquates Verständnis von eschatologisch motivierter Gewalt verhindere (34 f.47 u. ö.). Als Vertreter dieser These werden F. Bermejo-Rubio und S. G. F. Brandon (und wenige andere, vgl. 18–34) vielfach genannt und kritisiert. N. will demgegenüber den Konnex von Eschatologie und Gewalt zur Zeit des Zweiten Tempels aufzeigen, von dem Jesus sich in Wort und Tat abgrenze, was in den synoptischen Evangelien konsistent dargestellt sei (7.14–16 u. ö.).

In Kapitel 2 (52–80) geht N. ausgewählten Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels nach, die Gewalt in eschatologischen Kontexten thematisieren: Dan 2,25–45; 7,1–28; 8,1–26; 9,4–27; 10,1–12,13; äthHen 83–90; 93,1–10; 91,1–17 sowie Abschnitte aus 1QM. N. legt hier keine eigene Analyse vor, sondern referiert »pertinent observations re-garding the violence« (53). Alle Texte stimmten darin überein, dass der letzte Sieg in den eschatologischen Kämpfen Gott zu komme; der Grad aktiver Beteiligung der Gläubigen an Gewaltaktionen reiche von aktiver Teilnahme am Kampf gegen die Widersacher bis zum Festhalten am Vertrauen auf Gott ohne eigene Gewaltaktion (79 f.).

Kapitel 3 (81–115) befasst sich, wiederum überblicksmäßig, mit dem Makkabäeraufstand, dem jüdisch-römischen Krieg und dem Bar-Kochba-Aufstand. Für diese Phasen sei die Verknüpfung von revolutionärer Gewalt mit eschatologischer Hoffnung charakteristisch (115). Zwar sei dieser Zusammenhang nicht immer offensichtlich; gleichwohl sei die eschatologische Erwartung, dass Jahwe seine Verheißungen erfülle, sein Volk befreie und dessen Gegner vernichte, ein zentrales Element der militärischen Erhebungen – und eingeordnet darin auch die aktive Beteiligung daran (synergistische Gewalt, 87 u. ö.). Eschatologische Gewaltausübung sei »a significant element of Jesus’s world« (115).

Wie sind Gewaltaussagen in der Jesustradition zu interpretieren? In Kapitel 4 (116–160) befasst N. sich mit Stellen, die von den Vertretern der »seditious Jesus hypothesis« als Belege herangezogen werden: Mt 10,34; Mk 11,1–11 parr; Mk 11,15–19 parr; Mk 12,13–17 parr; Lk 22,35–38; Mk 14,43–50 parr sowie die Kreuzigungsszenen. Die »aufrührerische Interpretation« wird jeweils dargestellt und einer Kritik unterzogen. Auch wenn einige Texte schwierig zu interpretieren seien (z. B. 144 zu Lk 22,35–38) oder »seditious implications« nahelegen (so bei der Kreuzigung Jesu, 154), lasse sich nirgends ein Aufruf zur Gewalt erkennen. (Eschatologisch motivierte) Gewalt komme zur Sprache, weil die Evangelisten ihre Welt so darstellten, wie sie eben war. Auch Jesus selbst sei sich der Gewalt um ihn herum bewusst gewesen. Für ihn charakteristisch sei jedoch, dass er in seiner Verkündigung vom Anbruch der Gottesherrschaft und in seinem Handeln jegliche Gewaltanwendung aktiv überwinde.

Dies wird in Kapitel 5 (161–190) anhand von Mt 11,12; Lk 13,1–5; Mt 5,38–48par; Mk 14,43–50parr vertieft. Die Erwartung vieler Je-susanhänger, dass Jesus sie im eschatologischen Kampf anführe, habe sie blind gemacht für die tatsächliche eschatologische Erfüllung, die in seiner Wirksamkeit bereits eingetreten sei. Die Evangelien zeigten Jesus als »clearly disassociating revolutionary violence from his inauguration of the kingdom of God« (189 f.): Gewalt habe rein gar nichts mit der Gottesherrschaft zu tun, wie er sie verkündigte und in seinen Taten verdeutlichte (Kapitel 6; vgl. exemplarisch die Beelzbul-Perikope Mk 3,22–27parr). Selbst die Exorzismen (Mk 1,21–28par; Mk 5,1–20 parr; Mk 7,24–30par; Mk 9,14–29parr) kämen ohne eigentliche Gewaltanwendung aus, denn angesichts der »overwhelming authority demonstrated by Jesus« seien die Dämonen und Satan von vornherein chancenlos (209). In den Exorzismen zeige sich »Jesus’s choice to engage in eschatological conflict through exorcism, instead of taking up the sword of eschatological violence against Rome.«

Kapitel 7 (231–237) fasst die Ergebnisse zusammen. Eine Biblio-graphie (238–287) sowie ein Stellen- und Sachenindex (288–309) schließen sich an.

N. lehnt die »seditious Jesus hypothesis« als durchgängiges Interpretationsprinzip mit Recht ab. Nach der Lektüre bleiben aber auch gegenüber seiner Darstellung Fragen und Bedenken:

– Die wiederholte Dar- und Widerlegung der »seditious Jesus hypothesis« hinterlässt den Eindruck von Redundanz und Apologetik. Hauptsächlich geht es N. darum, diese These abzuwehren und positiv darzulegen, dass die Synoptiker die Erinnerung an die in Wort und Tat durchgehaltene Gewaltlosigkeit Jesu sachgerecht und konsistent dargestellt hätten. Ungewollt bekommt diese These aber gerade durch die vielfache Wiederholung mehr Gewicht, als ihr tatsächlich zukommt.

– Dass der wahre Feind Satan und nicht Rom sei, führt zu einer Lektüre, die selbst naheliegende politische Implikationen (vgl. z. B. Mk 5,1–20 oder den Kreuzestitulus) tendenziell abwertet (vgl. 150–154; 212–215). Die Vorstellung einer völlig konsistenten Darstellung des gewaltlosen Jesus bei den Synoptikern ist eine petitio principii, der die einzelnen Texte untergeordnet werden.

– Im Blick auf die grundlegenden Texte in Kapitel 2 und die Deutung der geschichtlichen Ereignisse (gehört der Bar-Kochba-Aufstand noch zur Zeit des Zweiten Tempels?) wäre eine gründlichere Analyse wünschenswert. Das Bild von dem engen Konnex zwischen Gewalt und Zukunftserwartung bleibt holzschnittartig und wird den verschiedenen Auffassungen der religiösen Gruppierungen zur Zeit Jesu (z. B. Pharisäer und Zeloten) nicht wirklich gerecht.

– Dass die Exorzismen Jesu im Sinne eines eschatologischen Konflikts gedeutet werden können, soll nicht bestritten werden. Aber die Beschreibung des gedanklichen Hintergrunds der Dämonologie fällt sehr knapp aus (193–198), und die Aussage, dass die Synoptiker die Exorzismen als Alternative zur eschatologisch motivierten, revolutionären Gewalt dargestellt hätten (221), ist in der vorgetragenen Allgemeingültigkeit m. E. nicht zu halten.

– Die endzeitliche Vernichtung der Dämonen und die Gewalt im Endgericht werden nicht thematisiert. Diese selbst gewählte Beschränkung wird damit begründet, dass es nur um konkret ausgeübte oder intendierte Gewalt gehe (47f.). Dies ist ein Manko, und das knappe Zugeständnis, dass es offenbar doch »a certain level of conceptual overlap between Jesus and his contemporaries« (48) gegeben habe, weist darauf hin, dass dieser Aspekt eine intensivere Behandlung verdient hätte.

– N. stellt Jesu Weg zum Kreuz als Gegensatz zur Versuchung dar »to use his power to inflict violent destruction on the enemies of God/his people« (227). Das mag man für Mk 8,27–33 so sehen. Aber eine durchgängige Alternative zwischen »to engage in eschatological conflict through exorcism« und »taking up the sword of eschatological violence against Rome« (228) ist eher der apologetischen Abwehr der »seditious hypothesis« geschuldet als aus den Texten entnommen. So bleibt am Ende ein zwiespältiger Eindruck von dieser – trotz mancher Wiederholungen – gut lesbaren Arbeit.