Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

54-56

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Flemming, Tobias

Titel/Untertitel:

Die Textgeschichte des Epheserbriefes. Marcion änderte nichts: Eine grundlegend neue Perspektive auf den Laodicenerbrief.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto 2022. 236 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 67. Kart. EUR 88,00 Euro. ISBN 9783772087387.

Rezensent:

Armin D. Baum

An welche Gemeinde der Epheserbrief ursprünglich gerichtet war, ist eine schwierige Frage. Inhaltlich fällt auf, dass der Brief, obwohl er sich an die von Paulus gegründete Gemeinde in Ephesus wendet, in der er sich lange aufgehalten hat, so formuliert ist, als würden die Adressaten den Apostel nicht persönlich kennen (Eph 1,15–16; 3,1–4). Hinzu kommt, dass zwar in fast allen der über 600 erhaltenen griechischen Handschriften in der Grußüberschrift die Ortsangabe »in Ephesus« steht, diese aber in sechs teilweise sehr frühen Handschriften (darunter Papyrus 46, א* und B*) fehlt. Die frühen Kirchenväter Irenäus, Clemens von Alexandrien und Tertullian kannten den Brief zwar schon als Epheserbrief, aber Tertullian berichtet, bei den Häretikern sei der Epheserbrief an die Laodicener adressiert gewesen (Adv. Marc. V 11,13), was auf eine Interpolation Marcions zurückzuführen sei (V 17,1).

Dieser textkritische Befund ist unterschiedlich gedeutet worden: Entweder die Ortsangabe »in Ephesus« ist ursprünglich, stammt also von Paulus oder einem seiner Schüler. Aber warum wird dann die Beziehung des Apostels zur Gemeinde von Ephesus so verzeichnet? Oder die Grußüberschrift enthielt ursprünglich keine Ortsangabe. Aber warum sollte der Autor so stark von den Grußüberschriften der übrigen sieben Gemeindebriefe des Corpus Paulinum abgewichen sein, die alle eine Ortsangabe enthalten (Röm 1,7; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Phil 1,1; Kol 1,2 sowie Gal 1,2; 1Thess 1,1; 2Thess 1,1)? Oder der sogenannte Epheserbrief war ursprünglich als Rundbrief konzipiert und enthielt in der Grußüberschrift eine Lücke, in die für jede Adressatengemeinde eine andere Ortsangabe eingetragen werden konnte. Aber warum ist dieses Verfahren in der Antike sonst nicht belegt? (Ausführlicher als in der von F. angeführten Literatur wurde dies von O. Roller, BWANT 58, 200–212 mit 598–606, nachgewiesen.)

Im ersten Hauptkapitel seiner von Matthias Klinghardt an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden betreuten Dissertation hat F. den Befund und die Forschungsdiskussion gründlich dargestellt (17–49). F. schließt sich einem vierten Lösungsvorschlag an, der erstmals 1707 von John Mill notiert und 1875 von John Lightfoot übernommen wurde: Die Ortsangabe »in Ephesus« in der Grußüberschrift des sogenannten Epheserbriefs ist sekundär; ursprünglich lautete sie »in Laodicea«. Beim sogenannten Epheserbrief handelt es sich in Wirklichkeit um den in Kol 4,16 erwähnten Brief des Paulus »aus Laodicea«, der bei seiner Abfassung an die Gemeinde »in Laodicea« adressiert war und den auch die Gemeinde in Kolossä lesen sollte.

Adolf von Harnack hat diese Lösung 1910 ausführlicher entfaltet. Der sogenannte Epheserbrief sei der gleichzeitig mit dem Kolosserbrief versandte Laodicenerbrief (siehe Kol 4,7–8 par Eph 6,21–22). Dass die ursprüngliche Ortsangabe »in Laodicea« getilgt wurde, führte Harnack darauf zurück, dass der Gemeinde in Laodicea in Apk 3,14–15 ein so schlechtes Zeugnis ausgestellt wurde, dass sie als Adressatin eines Paulusbriefs nicht länger tragbar war. Die Frage, warum als Ersatz die Angabe »in Ephesus« gewählt wurde, konnte Harnack nicht beantworten.

Zur Unterstützung dieses Erklärungsmodells präsentiert F. einige zusätzliche Beobachtungen und Argumente: In den altlateinischen Prologen zu den Paulusbriefen, die zu einer vormarcionitischen 10-Briefe-Sammlung gehörten, findet sich im Vorwort zum Kolosserbrief ein indirektes Indiz dafür, dass unser Epheserbrief darin an die Gemeinde »in Laodicea« adressiert war. Marcion habe die Adressierung an die Laodicener nicht selbst eingefügt, sondern bereits vorgefunden. Schon der älteste erreichbare Text von Eph 1,1 enthielt die Ortsangabe »in Laodicea« (87–97).

Der Text der 10-Briefe-Sammlung Marcions lässt sich bekanntlich nur aus den Zitaten bei Tertullian und Epiphanius rekonstruieren. F.s Analyse führt ihn zu dem Ergebnis, dass die von Marcion vorgenommenen Änderungen am vormarcionitischen Text der ihm vorliegenden 10-Briefe-Sammlung viel geringer waren als die Kirchenväter behauptet haben. Für die wenigen Stellen des Epheserbriefs, an denen nennenswerte inhaltliche Unterschiede zwischen dem Laodicenerbrief des Marcion und dem Epheserbrief vorliegen (vor allem Eph 2,14; 2,20; 5,28; 6,2) hält F. die Lesarten des Laodicenerbriefs für ursprünglicher und führt die Lesarten des Epheserbriefs auf Eingriffe der frühen Kirchenväter zurück. Auch dieser Befund spreche für eine Priorität des Laodicenerbriefs gegenüber dem Epheserbrief (99–144).

Die dem Marcion bekannte 10-Briefe-Sammlung (ohne Pastoralbriefe) ist F. zufolge älter als die von den frühen Kirchenvätern (Irenäus, Tertullian und Origenes) und in den neutestamentlichen Handschriften bezeugte 14-Briefe-Sammlung (mit 13 Paulinen und Hebräerbrief). Die 14-Briefe-Sammlung sei durch eine Erweiterung und redaktionelle Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung entstanden. Im Zuge dieser Überarbeitung seien nicht nur die erwähnten inhaltlichen Änderungen am Text des Laodicenerbriefes vorgenommen worden; bei dieser Gelegenheit wurde auch die Ortsangabe »in Laodicea« in der Grußüberschrift des Laodicenerbriefs getilgt und durch »in Ephesus« ersetzt (145–164).

In seinem letzten Kapitel schließt sich F. der von Harnack vorgeschlagenen Erklärung für die Tilgung der Ortsangabe »in Laodicea« an. Dass sie durch »in Ephesus« ersetzt wurde, erklärt F. mit der Hypothese, dass die Herausgeber der 14-Briefe-Sammlung sich daran orientierten, dass Ephesus in der Biografie des Paulus und der Geschichte des frühen Christentums eine wichtige Rolle gespielt hatte. Möglicherweise sei die 14-Briefe-Sammlung sogar in Ephesus herausgegeben worden.

Wie lässt sich dann das Fehlen von »in Ephesus« in sechs griechischen Handschriften erklären? F. nimmt an, dass der Text ohne »in Ephesus« auf eine frühe Textrezension der 14-Briefe-Sammlung zurückgeht, deren Autoren nicht nur Handschriften des Epheserbriefs (mit »in Ephesus«), sondern auch Handschriften des Laodicenerbriefs (mit »in Laodicea«) vorlagen. Um sich nicht für eine der beiden Lesarten entscheiden zu müssen, hätten die Rezensenten die Ortsangabe weggelassen. Nachdem der Laodicenerbrief (mit »in Laodicea«) in Vergessenheit geraten war, setzte sich in der großen Mehrzahl der Handschriften das sekundäre »in Ephesus« durch (165–191).

F. ist es mit detektivischem Scharfsinn gelungen, auf nur 200 Seiten zu einem alten textkritischen Problem einige neue Indizien, Deutungen und Argumente beizutragen. Meine bisherige Neigung, Harnacks Lösung für die wahrscheinlichste zu halten, ist durch diese Dissertation jedenfalls verstärkt worden.