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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

48-49

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Nora

Titel/Untertitel:

Josef – Wandlung der Bilder – Bilder der Wandlung. Tiefenpsychologische Näherungen an die Josefsgeschichten der Bibel und des Koran.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 155 S. m. 1 Abb. = Biblisch-Theologische Studien, 189. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783788735333.

Rezensent:

Jörg Lanckau

Nora Schmidt studierte Arabistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, ehe sie 2015 mit einer Arbeit »Philologische Kommentarkulturen. Abū ʿUbaidas Maǧāz al-Qur’ān im Licht spätantiker Exegesepraktiken« an der FU Berlin promoviert wurde. 2018–20 studierte sie Evangelische Theologie (M. A.) in Heidelberg, während sie im SFB 980 »Frühislamische Koranwissenschaft im Licht spätantiker Kommentarkulturen« als Teilprojektleiterin wirkte. Die vorliegende Monographie, eine Erweiterung ihrer theologischen Masterarbeit, steht bereits im Kontext ihres 2020 bewilligten DFG-Projekts »Die Umschrift der Weisheit. Übertragungen der Josef-Legende vom Alten Orient bis in die islamische Zeit«.

Allein die klassische exegetische Literatur zur biblischen Josefsgeschichte ist inzwischen »Legion«. Daher wäre ein interdisziplinärer Ansatz, der die Rezeption der »Josefstradition« vom Alten Orient inkl. Ägypten bis zum spätantiken Koran verfolgt, bereits für sich interessant. Die Vfn. lässt aber zunächst die tiefenpsychologische Perspektive hermeneutisch zu Wort kommen, welche auf der – systematisch seit C. G. Jung praktizierten, aber vor allem seit der Polemik E. Drewermanns gegen die historisch-kritische Exegese methodisch umstrittenen – Anwendung der modernen Psychoanalyse auf antike literarische Erzählfiguren und -situationen beruht. Die Vfn. ist sich der Schwierigkeiten jedoch bewusst. Sie nimmt einerseits O. Keels Konzept der »vertikalen Ökumene« auf, welches den Verflechtungen der biblischen Texte in den Traditionsgemeinschaften besser gerecht wird, und versteht andererseits die Tiefenpsychologie als »Instrument der Familienanamnese, statt als synchrone Form der Schriftauslegung« (18). Allerdings kann die Vfn. nicht auf eigene psychotherapeutische Praxis zurückgreifen und bezieht sich stattdessen auf vorliegende Interpretationen (37 f.).

Im ersten Teil wird die biblische »Novelle« unter dem Gesichtspunkt des Individuationsprozesses der Hauptfigur untersucht. Der Fokus liegt auf der »Verführungsgeschichte« – von Gen 39 über die talmudische Deutung sowie der Sure 12 bis hin zu einem sehr lesenswerten Exkurs über den Epenzyklus des persischen Gelehrten Djami (gest. 1492), der darin eine Transformation der Episode in ein vielschichtiges Liebesdrama bietet. Gemessen an der Leserichtung der biblischen Texte geht mir das allerdings zu schnell: Eine mögliche Schuld Josefs an der Familientragödie wird ohne weitere Prüfung konzediert, und über tiefenpsychologisch fruchtbare Aspekte wie den Doppeltraum Gen 37,7–9 erfahre ich zuerst im Abschnitt zum Gefängnisaufenthalt Josefs (Gen 40,85 ff.). Doch auch hier wird nicht auf die altorientalistisch, ägyptologisch und bibelwissenschaftlich erforschte antike Bedeutung der Träume Bezug genommen, sondern wesentlich S. Freuds »Traumdeutung« (1900) referiert. Der Individuationsprozess Josefs sei entscheidend von der als »reife Vater-Imago« gezeichneten Figur Pharaos geprägt, so dass der Hauptprotagonist das männliche Kollektiv seiner Brüder auflösen kann (99), um sich schließlich souverän und empathisch diesen zu offenbaren (104). In diesem Kontext stellt sich abermals die strittige Frage nach der Bewahrheitung der initialen Träume: Die Vfn. begründet, dass die Brüder und der Vater Josefs Träume falsch als Wunsch zur Macht missdeuten, während der Erzähler – ausgehend von altorientalischen Konzepten der Weisheit als Wissenschaft – Weisheit als Frucht der Gottesfurcht versteht.

Im zweiten, leider recht knapp abgefassten Teil der Studie wird die tiefenpsychologische Deutung mit der »klassischen« historischen Textforschung (inkl. einer Zusammenfassung ihrer Geschichte) ins Verhältnis gesetzt, wobei der Vfn. bewusst ist, dass dieser methodische Schritt in die Erarbeitung bereits eingeflossen ist (23; 123 ff.). Die Fortschreibungen der Josefsgeschichte seien nicht eindimensional als fortlaufende Rezeption zu verstehen, sondern müssten auch postkanonisch als wechselwirksame Dynamiken, also als Teil einer metonymisch verstandenen Verflechtungsgeschichte wahrgenommen werden (125 und Thesen 140–146). U. a. wird die Josefsgeschichte als Subtext für Mt 21,33–46 sowie Lk 15,11–32 verstanden (134 f.) – hier gäbe es noch weiteren Forschungsbedarf.

Die kompakte Studie liest sich durchweg flüssig. Die beigegebenen, üblichen Verzeichnisse sind auf den ersten Blick fehlerfrei.