Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

39-40

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Metzner, Rainer

Titel/Untertitel:

Ein Buch mit sieben Siegeln. Die Redewendungen der Bibel.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 496 S. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783374071326.

Rezensent:

Michael Rydryck

Rainer Metzner ist Privatdozent für Neues Testament an der Humboldt-Universität zu Berlin und evangelischer Pfarrer. M. hat nun mit dieser Studie ein neues, umfangreiches Werk vorgelegt. Bereits mit seinem Buch »Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar« (NTOA 66, Göttingen 2008) hatte M. einen ebenso umfassenden wie nützlichen Kommentar zu den neutestamentlichen Texten publiziert, der den Begriff der Prominenz und prosopographische Forschungsansätze zur Erschließung neutestamentlicher Texte fruchtbar in den exegetischen Diskurs eingebracht hat. Die von M. aktuell veröffentlichte Textstudie thematisiert sprachliche, genauer gesagt idiomatische Aspekte biblischer Texte und weitet den Blick über das Neue Testament hinaus auf die gesamte Bibel. Das Buch positioniert sich hermeneutisch und forschungsgeschichtlich innerhalb bereits vorhandener Ansätze zu idiomatischer Forschung als erste umfassende und aktuelle Arbeit zu den Redewendungen der Bibel in der Sprachgestalt der Lutherbibel. M. grenzt sich zugleich mit seinem theologischen und literaturwissenschaftlichen Anspruch von populären Blütenlesen biblischer Redewendungen ab (11−13). Die Wahl der Lutherbibel als Textgrundlage der Untersuchung wird mit ihrer rezeptionsgeschichtlichen Wirkmächtigkeit und mit ihrer Affinität zu geprägter Sprache und einprägsamen Redewendungen begründet (14−18).

Diesen Vorüberlegungen folgt eine definitorische Skizze (18−23) zu Begriff und Funktion der Redewendung. Entscheidende Kennzeichen der Redewendung (die alternativ auch als Idiom, idiomatische Wendung, Wortgruppenlexem, Phrasem, Phraseolexem, Phraseologismus oder phraseologische Wendung bezeichnet werden kann) sind M. und seinen Referenzen zufolge »Polylexikalität (sie bestehen aus mehr als einem Wort), Stabilität (sie werden jeweils in der nahezu gleichen Form und Bedeutung reproduziert) und Idiomatizität.« (19−20) »Es handelt sich um vorgefertigte, konventionalisierte Einheiten der Sprache, die im menschlichen Gedächtnis als abgespeicherte Bauteile überdauern« (19). M. zeichnet seine Arbeit − über das explizit Ausgeführte hinaus − durch zahlreiche Literaturangaben und Hinweise in den exegetischen und linguistischen Forschungsdiskurs ein.

Dem Definitionskapitel schließen sich Erwägungen zur Abgrenzung von anderen Formen geprägter Sprache an, die das textliche und linguistische Profil des Phänomens Redewendung schärfen sollen (23−30) und die, wie auch in den Kapiteln zuvor, mit zahlreichen Beispielen belegt werden. Einige Hinweise zu Struktur und Zielsetzung der folgenden Textanalysen schließen den Eingangsteil ab (30−33) und bilden die Brücke zum umfangreichen Hauptteil der Studie. Diese umfasst nahezu alle biblischen Bücher in der Reihenfolge der Lutherbibel einschließlich der sogenannten Apokryphen.

Die Analysen sind nach einem gleichbleibenden Schema aufgebaut: Benennung der Redensart, erläuternde Paraphrase, ggf. Nennung von Parallelstellen, exegetischer Kurzessay, (knappe) Rezeptionsbeispiele. M.s Buch ist als akribische, umfassende und gründliche Analyse der Redewendungen in der Lutherbibel zu lesen, aber ebenso als Kommentar zu den einzelnen biblischen Büchern nutzbar. Hilfreich sind an dieser Stelle die Verzeichnisse der untersuchten Redewendungen, die den Band abschließen und eine gezielte Suche ermöglichen (483−496). Die Analysekapitel fallen notwendig unterschiedlich in Umfang und Ertrag aus, bieten aber in Gänze ein detailliertes Bild der idiomatisch geprägten Sprache sowohl der biblischen Texte als auch der Übersetzung Luthers. Wie in einem Mosaik wird die sprachbildende, hermeneutische, textpragmatische, bibeldidaktische und kulturelle Bedeutung der Redewendungen in der Tradition der Lutherbibel deutlich.

M.s Analysen zeugen von einem beachtlichen Kenntnisreichtum, sind stilistisch gut sowie exegetisch nachvollziehbar und klar geschrieben. Sie bringen die idiomatischen Beobachtungen auf den Punkt und regen zum Weiterlesen an – im vorliegenden Buch wie auch in den biblischen Texten. Es handelt sich bei M.s Studie im besten Sinn um ein gelehrtes und fundiert gebildetes Buch, kenntnisreich, detailgenau und rezeptionsgeschichtlich innovativ. Allerdings erzeugen die außerbiblischen Belege der untersuchten Redensarten, die M. der literarischen Rezeptionsgeschichte entnimmt, einen nostalgischen Ton: Primär handelt es sich bei den angeführten Beispielen um hochkulturelle Reminiszenzen bei Dichtern und Philosophen des 18. und 19. Jh.s wie Rousseau, Lessing, Jean Paul oder Schopenhauer. Die Beispiele sind allesamt treffend und erhellend, suggerieren aber auch eine gewisse Abständigkeit der lutherisch geprägten Redewendungen in Sprache und Kultur der Gegenwart. Dieser Aspekt hätte meines Erachtens in einem Eingangs- oder Schlusskapitel eine Erörterung gelohnt. Deutungsbedürftig ist aus meiner Sicht auch der Befund, dass die Dichte an Redewendungen in drei recht unterschiedlichen Texten, dem Buch Genesis, dem Psalter und dem Lukasevangelium, überproportional hoch ist.

Das Buch endet mit der idiomatischen Analyse der Johannesoffenbarung. Man hätte sich allerdings im Anschluss an die Einzel- analysen eine linguistische, rezeptionsästhetische und theolo- gische Auswertung gewünscht, welche die zahlreichen Beobachtungen bündelt, systematisiert und vor allem in andere theologische Diskurse wie etwa Liturgik, Homiletik, aktuelle Übersetzungsdebatten etc. einzeichnet. Welche Vorzüge und welche Probleme ergeben sich etwa bei einer stark idiomatisch geprägten Übersetzungspraxis? Welche Wirkung erzielen Redewendungen in homiletischen und liturgischen Kontexten? Welche Potentiale bergen Idiome in bibeldidaktischen Zusammenhängen? Wie sind die Phänomene relativer kultureller Abständigkeit in einer ggf. selbstreferentiellen Hochkultur und die Gefahr einer Musealisierung lutherisch-biblischer Redewendungen einzuschätzen? Diese und vergleichbare Fragen, die sich im Lesefluss und nach der abschließenden Lektüre ergeben, bleiben leider unbeantwortet. Eine die genannten Facetten berücksichtigende Auswertung hätte nicht nur einen Bogen zum jetzt eher isoliert wirkenden Eingangsteil schlagen, sondern auch Struktur in die Fülle der einzelnen untersuchten Redewendungen bringen können.

Alles in allem ist diese Studie nicht nur gut und nützlich zu lesen, sondern ein notwendiger und wichtiger Beitrag zur gegenwärtigen Exegese. M. erschließt die biblischen Texte rezeptionsgeschichtlich, bibelhermeneutisch, kulturgeschichtlich, linguistisch und sprachgeschichtlich aus einer neuen Perspektive. Sein Buch hat das Potential, die übersetzungstheoretischen, bibeldidaktischen, homiletischen und liturgischen Diskurse der Gegenwart zu bereichern.