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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

23-26

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Karl-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Tora und Weisheit. Studien zur frühjüdischen Literatur.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XI, 717 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 466. Lw. EUR 184,00. ISBN 9783161607998.

Der Titel dieses Buches steht für ein Programm. Tora und Weisheit lassen sich als zentrale Themen beschreiben, zwischen denen sich die vielschichtige Welt der frühjüdischen Literatur entfaltet. Diese Literatur als Matrix der neutestamentlichen Schriften verstehen zu lernen, ist wiederum der Ansatz eines Forschungsprojektes, das Karl-Wilhelm Niebuhr, von 1997 bis 2022 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Jena, über viele Jahre unter dem Label »Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti« als dessen spritus rector vorangetrieben hat. Daraus speist sich der Band. Er enthält 23 Beiträge, von denen die meisten längst schon zum festen Bestandteil der Fachdiskussion geworden sind. Vier Beiträge erscheinen hier zum ersten Mal – die beiden ersten zu den titelgebenden Stichworten, sowie zwei weitere zu den Themen Auferstehung und Pseudo-Phokylides; sie sollen in der folgenden Besprechung besondere Aufmerksamkeit erfahren.

Gegliedert ist der Band in drei Sektionen: I. Nomos und Sophia, II. Eschatologische Schriftauslegung im Frühjudentum, III. Studien zur frühjüdischen Literatur. Daran wird bereits deutlich, dass es hier um das Eigenrecht verschiedener theologischer Entwürfe geht, die sich wohl gemeinsamen Grundüberzeugungen verdanken, nicht aber Teil eines stringenten Systems sind. »Eine ›Theologie des Frühjudentums‹ kann nicht geschrieben werden«, lautet deshalb der erste Satz der Einführung, die sowohl den disparaten Charakter dieses Literaturbereichs als auch seine maßgeblichen Koordinaten thematisiert. Tora und Weisheit stellen »so etwas wie die beiden Pole im Frühjudentum dar, vielleicht besser: die Brennpunkte einer Ellipse, an denen sich sehr unterschiedliche Ausprägungen jüdischen Glaubens und deren literarische Niederschläge orientieren konnten ...« (5). Insofern kommt ihnen auch für das Verständnis neutestamentlicher und frühchristlicher Quellen zentrale Bedeutung zu. Tora und Weisheit, die seit frühjüdischer Zeit miteinander »in einer unlösbaren, aber keineswegs gleichberechtigten Partnerschaft« leben, unterhalten zugleich intensive Außenbeziehungen (6). Sie führen vor allem in die Bereiche Ethik und Philosophie hinein und lassen zahlreiche Querverbindungen erkennen. Auf diese Weise entsteht zwar noch kein Gesamtbild zur Bedeutung von Tora und Weisheit; wohl aber zeichnen sich deutliche Konturen eines solchen Bildes ab.

I Nomos und Sophia. Der erste Beitrag dieser Sektion über »Die Tora im Alten Testament und im Frühjudentum« ist mit 86 Seiten der umfangreichste des Bandes. Er erweist sich in materialer Hinsicht als eine Fundgrube, was die Entfaltung und die Wandlungen des Toraverständnisses zwischen Perser- und römischer Kaiserzeit betrifft. Kenntnisreich und akribisch werden die Quellen sortiert und auf ihre jeweilige Eigenart hin untersucht; durchgängig liegt ein besonderes Augenmerk auf den narrativen Zusammenhängen, in denen die Tora zur Sprache kommt. Nach ihrer Darstellung im Alten Testament (hinsichtlich Literaturgeschichte, Autorisierung, Beziehung zu Prophetie und Schriften) steht das frühe Judentum im Zentrum, das anhand von Qumran (Jachad-Texte, Tempelrolle, Worte des Mose, Jub, LAB), Septuaginta, sowie hellenistisch-jüdische Autoren (Aristobul, Philo, Josephus, Aristeas, SapSal, 4Makk, Tobit, Henoch-Schriften, TestXII, JosAsen, Leben Adams und Evas, PsSal, SybOr, Ps-Phokylides und Verwandtes) in den Blick kommt. Dies alles wird in großer Detailgenauigkeit dargeboten und in seiner gegenseitigen Vernetzung beschrieben. In sachlicher Hinsicht fällt das Ergebnis eindeutig aus: von »einem« frühjüdischen Gesetzesverständnis zu sprechen, wäre anachronistisch; eine »flächendeckende, allgemein anerkannte ›Tora-Lehre‹ und mit ihr verbundene [...] Institutionen« hat es nirgendwo gegeben; auch die Bindung an den überlieferten Wortlaut des Pentateuch lässt sich in den Quellen nicht als »Leitbild« ausmachen. »Gleichwohl war das Gesetz im frühen Judentum offenbar geradezu allgegenwärtig.« Das schließt Auslegungskonflikte nicht aus, doch eine übergreifende Kategorie für solche Konflikte »wie sie der in christlicher Theologie immer noch beliebte Begriff ›Gesetzeskritik‹ impliziert, stand dafür nicht zur Verfügung, auch nicht den Autoren des Neuen Testaments.« (100) Der zweite neue und nicht weniger programmatische Beitrag behandelt »Biblische Weisheit und griechische Philosophie in der frühjüdischen Literatur«. Die Durchdringung jüdischen Denkens und Lebens mit hellenistischer Sprache und Kultur auch im Mutterland gehört schon seit Langem zu den Standardvoraussetzungen für die Beurteilung frühjüdischer Texte. Inwiefern sich jedoch gerade die Weisheitstradition philosophischen Einflüssen öffnet, bedarf einer genaueren Bestimmung. Der Beitrag beginnt deshalb mit einer detaillierten »philosophiegeschichtlichen Orientierung«, die Erbe und Umfeld der hellenistischen Philosophie ausleuchtet und präsentiert. Ein zweites, eigenständiges Kapitel ist sodann der philosophischen Schultradition von Alexandria und dem sogen. Mittelplatonismus gewidmet, deren Bedeutung für die Rezeption philosophischer Traditionen im frühen Judentum gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Im dritten Kapitel erfolgt ein Durchgang durch jüdische Weisheitstexte wie die Septuaginta (Koh, Sir, SapSal, 4Makk), Aristobul, Philo (als Skizze) und Ps-Phokylides, stets unter dem Vorzeichen eingeführter philosophischer Sprach- und Denkmuster. Das Fazit stellt als grundlegende Gemeinsamkeit die fraglose »Bindung an das Gottesverständnis Israels und an die religiösen und ethischen Normen des Mosegesetzes« fest; Weisheit und Philosophie stehen einander nicht etwa gegenüber, sondern bilden »mit dem Gesetz eine Harmonie, für die der Glaube an den Gott Israels den Grundton abgibt.« (148)

Ferner finden sich hier: »Hellenistisch-jüdisches Ethos im Spannungsfeld von Weisheit und Tora«; »Tora ohne Tempel. Paulus und der Jakobusbrief im Zusammenhang frühjüdischer Torarezeption für die Diaspora«; »Juden in Rom unter Nero. Intellektuelle Netzwerke, religiöse Praxis, geistige Horizonte«; »Jüdisches, jesuanisches und paganes Ethos im frühen Christentum. Inschriften als Zeugnisse für Rezeptionsmilieus neutestamentlicher Texte im kaiserzeitlichen und spätantiken Kleinasien am Beispiel des Jakobusbriefes«; »Weisheit als Thema biblischer Theologie«; »Jesus als Lehrer der Gottesherrschaft und die Weisheit. Eine Problemskizze«; »Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitlich geprägte Torarezeption«.

II Eschatologische Schriftauslegung im Frühjudentum. In dieser Sektion ist vor allem der Beitrag über »›Auferstehung‹ im Frühjudentum. Das Nomen ἀνάστασις in der Septuaginta, in der frühjüdischen Literatur und im Neuen Testament« hervorzuheben. Er widmet sich im Besonderen dem Terminus, der außerhalb des NT nur spärlich belegt ist. Muss er als christliche Innovation verstanden werden, oder lässt er sich einem bestimmten frühjüdischen Milieu zuordnen? Die Frage nach der Herausbildung einer allgemeinen Auferstehungshoffnung in Israel beantwortet N. vor allem auf der sprachlichen Ebene; sachlich gegeben war diese Hoffnung schon immer. Nach einer erschöpfenden Analyse des Befundes kommt er zu dem Ergebnis, dass gerade die frühjüdischen Schriften vielfältige Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod transportieren, das Nomen ἀνάστασις jedoch nur in einem bestimmten Milieu kultivieren, in dem jüdische und christliche Theologie einander berühren; das betrifft maßgeblich eine Schrift wie das griech. »Leben Adams und Evas« sowie verschiedene Züge der LXX. Der Terminus »beleuchtet somit das Überschneidungsfeld von Frühjudentum und frühem Christentum, dem die Kirche ihre gesamte biblische Überlieferung, bestehend aus Altem und Neuem Testament, verdankt.« Das Bekenntnis zur Auferstehung und die damit verbundenen eschatologischen Vorstellungen sind »nicht ohne die Glaubensüberlieferung Israels in der biblisch-frühjüdischen Tradition denk- und nachvollziehbar« (397).

Ferner stehen hier: »Ein eschatologischer Psalm – 4Q521,2 II«; »Die Werke des eschatologischen Freudenboten. 4Q521 und die Jesusüberlieferung«; »Biblische Geschichte und Menschheitsgeschichte. Überlegungen in Anknüpfung an Herder«; »Tod und Leben bei Josephus und im Neuen Testament. Beobachtungen aus wechselseitiger Wahrnehmung«.

III Studien zur frühjüdischen Literatur. In Sektion III erscheint der Beitrag »Pseudo-Phokylides: Ein hellenistisch-jüdisches Lehrgedicht aus Alexandria« zum ersten Mal. Er fügt sich in eine Reihe weiterer Studien zu dieser »intellektuell und kulturell außergewöhnlichen Komposition« ein, die N. immer wieder an verschiedenen Orten vorgelegt hat. Das Lehrgedicht, das die Autorität eines milesischen Dichters (6. Jh. v. Chr.) in Anspruch nimmt, vermutlich aber in das alexandrinische Judentum der Zeitenwende gehört, zeichnet sich durch die Aufnahme biblischer Topoi einerseits wie die Offenheit für ethische Maximen der hellenistischen Bildungswelt andererseits aus. »Für jüdische Eliten in dem sehr kompetitiven kulturellen und religiösen Klima des Imperium Romanum konnte das eine adäquate Strategie sein, das Selbstbewusstsein der Glieder ihrer eigenen Gemeinschaften zu stärken.« (584) Wer nach einer kompakten Einführung in die Text- und Forschungsgeschichte dieses lange vernachlässigten, in Sachen Ethik jedoch hochbedeutenden Textes sucht, findet in dieser Darstellung reichhaltige und anregende Informationen.

Ferner stehen hier: »Die jüdisch-hellenistische Literatur in der jüngeren Forschung. Ein Literaturbericht«; »Einführung in die Sapientia Salomonis«; »Ethik und Tora. Zum Toraverständnis in Joseph und Aseneth«; »Auf der Suche nach dem Paradies. Zur Topographie des Jenseits im Griechischen Leben Adams und Evas«; »Wohin mit den Toten? Begräbnispraxis und Auferstehungshoffnung in der Spätantike«; »Auferstehungshoffnung im griechischsprachigen Frühjudentum. Narrative Theologie im Griechischen Leben Adams und Evas auf dem Hintergrund der Septuaginta zu den Psalmen, Sirach und Hiob«; »Tod und Leben bei Pseudo-Phokylides«; »Außerkanonische Schriften im antiken Christentum. Das Beispiel syrischer Menander«.

Nachweise der Erstveröffentlichungen, ein Literaturverzeichnis und detaillierte Register (Stellen, Autoren, Sachen) laden zur wiederholten und gezielten Benutzung des Bandes ein, der die beiden Brennpunkte frühjüdischer Religiosität, Tora und Weisheit, erschließt und mit den Schriften der frühen Christenheit ins Gespräch bringt. Dafür gilt N. ein herzlicher Dank! Erfreulicherweise ist der Einleitung noch eine Verheißung mitgegeben. Ein weiterer Band mit Studien zu Paulus im Judentum seiner Zeit befindet sich bereits in Vorbereitung und wird den hier mustergültig durchgeführten Ansatz wechselseitiger Wahrnehmungen zwischen Frühjudentum und Neuem Testament weiter fortführen.