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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1229–1231

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Muth, Katharina

Titel/Untertitel:

Bewertungskriterien ethischer und religiöser Urteilskompetenz. Eine qualitative Studie über Prüfungsaufgaben und Bewertungsvorgaben im schriftlichen Abitur des Faches Evangelische Religionslehre.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 284 S. m. 21 Abb. = Studien zur religiösen Bildung, 22. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783374069361.

Rezensent:

Monika E. Fuchs

Die an der Friedrich-Schiller-Universität Jena verfasste Dissertation »fragt in erster Linie nach den Strukturvorstellungen von Urteilsbildung, die schriftlichen Abituraufgaben zugrunde liegen, nach Standards, nach der Bedeutung der Bekenntnisorientierung des Faches Religion im Urteilsbildungsprozess und nach diagnostischer Güte« (6). Exemplarisch greift die Autorin die fachübergreifend relevante Urteilskompetenz heraus, insofern diese »maßgeblich zum übergeordneten Ziel der Schule bei[trägt]: zur Mündigkeit der Lernenden, die gesellschaftliche und soziale Partizipation ermöglicht« (6). Katharina Muth »möchte einen Anstoß dafür geben, die Kompetenz Urteilsfähigkeit intensiver zu beforschen, indem sie auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse über Urteilsfähigkeit aus (Pädagogischer) Psychologie und Didaktikforschung nach an Schülerinnen und Schüler gestellte Anforderungen im Zusammenhang mit Urteilsfähigkeit sowie nach deren Bewertungskriterien fragt« (15). Ihre Gliederungsstruktur entspricht dem Gang empirischer Untersuchungen. Der schmale Anhang dokumentiert EPA-Anforderungen sowie die 42 Fälle der Untersuchung und aus dem Corpus entfernte Fälle. Ihm vorangestellt ist ein knapp 190 Titel umfassendes Literaturverzeichnis. Sachdienlich illustrieren etliche Tabellen und Grafiken die Darstellung; jedoch irritiert die je Kapitel neu beginnende Fußnotenzählung.

Zunächst entfaltet M. das recht komplexe Anforderungsprofil ethischer bzw. religiöser Urteilsbildung als erkenntnisleitendes Interesse. Sie verortet ihre Überlegungen in einem kompetenzorientierten Bildungsverständnis ebenso wie im religionspädagogischen Diskurs, bevor sie ihr Forschungsanliegen formuliert (Kap. 2) und besonderes Augenmerk auf die Frage legt, »wie mit der Herausforderung der Bewertung von Urteilsfähigkeit in kontroversen ethischen und religiösen Fragen umgegangen wird« (48). M. erläutert mittels bildungsadministrativer Kontextualisierung – bezogen auf die Einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur (EPA) und unter Berücksichtigung der res mixta – die diagnostischen Rahmenbedingungen als Forschungshintergrund. Gegenstand ihrer Reflexion sind verschiedene Kompetenzmo-delle, Bezugsnormen, Gütekriterien, Bewertungsansätze sowie die schriftliche Form der Aufgabenbearbeitung (Kap. 3).

Auf dieser Folie erfolgt die eigentliche Beschreibung des Forschungsstands mit dem Ziel, »Vorschläge aus der Forschungsliteratur zur Messung von Urteilsqualität herauszuarbeiten« (73). Während der religionspädagogische Horizont mittels juristischer, empirisch-modellierender sowie empirisch-didaktischer Facetten schlüssig aufgespannt wird (vgl. 4.2), erscheint die gewählte Überschrift »Allgemeinpädagogische Forschungen« (vgl. 4.1) insofern etwas unglücklich, als hierunter entwicklungspsychologische, argumentations- und testtheoretische sowie bio- logiedidaktische Konzepte subsumiert werden. Davon unbenommen kann die Autorin Qualitätsmerkmale ethischer Urteilskompetenz in mehrfacher Hinsicht resümieren, wobei sie der »Mehrperspektivität« als dem »Wahrnehmen und Reflektieren gegensätzlicher Positionen« (101) einen zentralen Stellenwert beimisst. Unterschiede zeigen sich hingegen im Vergleich ethisch-philosophischer, ethisch-religiöser und metaphysisch-religiöser Fragestellungen (Kap. 4).

Im weiteren Verlauf begründet das Forschungsdesign das methodische Vorgehen und erläutert die Auswahl der »wesentliche und differente religiöse Milieus« (106) abbildenden Bundesländer Thüringen, Bayern und Niedersachsen. Als Untersuchungsmaterial dienen Abituraufgabenstellungen und zugehörige Erwartungshorizonte dieser Bundesländer aus den Jahren 2014–2019. Sie werden in einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz) mit dem Ziel der »Strukturierung der aktuell gängigen Prüfungskonventionen und Bewertungsinstruktionen von Urteilsfähigkeit« (110) untersucht. Die Analyseeinheiten und Fälle (= Aufgabenstellungen, die explizit Urteilsfähigkeit prüfen, vgl. 113) werden reflektiert, wobei die Grenz- und Sonderfälle bereits hier auf die schwierige Passung von Operatoren verweisen. Aufgabenstellungen und Erwartungshorizonte sind im deduktiv entwickelten Kategoriensystem als Ebenen aufeinander bezogen (Kap. 5). Auf dieser Basis folgt die Ergebnispräsentation: zum Ers-ten im Blick auf die Kategorienorientierung (Kap. 6), zum Zweiten im Blick auf die Fallorientierung (Kap. 7) und zum Dritten im Blick auf die drei Bundesländer (Kap. 8). Diskussion (Kap. 9) und Ausblick (Kap. 10) beschließen die Ausführungen.

Insgesamt eröffnen M.s kategorienorientierte Ergebnisse, dass »Urteilsbildung zwar regelmäßig geprüft«, aber »nicht zwangsläufig in Abitursets des Faches Evangelische Religionslehre vorkommt« (176). Die Aufgaben umfassen Text- und Gestaltungsaufgaben, wobei Letztere sich nicht im Erwartungshorizont niederschlagen. Mit Stellungnahme/Antwort/Urteil, Begründung, Aufgabenbezug, Differenziertheit, Eigenständigkeit, fundierter Kenntnis, Schlüssigkeit und sprachlicher Gestaltung ergeben sich acht übereinstimmende Qualitätsmerkmale, ein »der Mehrheit der Aufgabenstellungen zugrunde liegendes einheitliches Konstrukt der Kompetenz Urteilsfähigkeit lässt sich jedoch nicht nachweisen« (177).

Die fallorientierten Ergebnisse verdeutlichen neben »Unstimmigkeiten zwischen den Operatoren der Aufgabenstellung und den Anforderungen der Erwartungshorizonte« (202), »dass Qualitätsmerkmale für Urteilsbildungen in den Erwartungshorizonten mitunter völlig fehlen oder aber auch unzureichend auf die konkrete Fragestellung hin ausdifferenziert werden. Es ist darüber hinaus deutlich geworden, dass die […] vorgesehenen Bearbeitungszeiten mitunter stark variieren.« (207)

Die Profilierung der einzelnen Bundesländer eröffnet schließlich differente »länderspezifische Aufgaben- und Prüfungskulturen« (219). M. vertritt die These, »dass zwischen Differenzen zu unterscheiden ist, die der religionssoziologischen Vielfalt Deutschlands Rechnung tragen und somit als kontextsensible Anpassungen zu wahren sind, und jenen, die in Bezug auf die Vergleichbarkeit von Abschlüssen zu Ungerechtigkeit hinsichtlich der Vergabe von Bildungsqualifikationen führen und daher minimiert werden müssen« (17 f.). Ihre abschließende »Diskussion der Ergebnisse im Spiegel des Anspruchs auf Vergleichbarkeit« (219) nimmt darüber hinaus eine Einordnung der in den Erwartungshorizonten genannten Qualitätsmerkmale in den Forschungsdiskurs vor und benennt Spezifika von Urteilsbildung im konfessionell gebundenen Religionsunterricht: »Zum einen die Akzeptanz christlicher Prämissen in Bezug auf Wirklichkeitsannahmen und zum anderen theologische Reflexionskriterien, an denen Urteils-entscheide geprüft werden.« (248)

In ihrer Untersuchung verknüpft M. didaktische, testtheoretische und urteilsreflexive Theorien und Herangehensweisen. Sie gibt Einblick in ein bislang in dieser Weise nicht erforschtes Feld. Ihr ernüchternder Befund am Beispiel der Urteilsbildung ist, dass die »in der Forschung diskutierten Merkmale […] bislang nur in geringem Umfang Eingang in die Erwartungshorizonte der Abiturprüfungsaufgaben gefunden« (249) haben.