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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1226–1229

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nissen, Ulrik

Titel/Untertitel:

The Polity of Christ. Studies on Dietrich Bonhoeffer’s Chalcedonian Christology and Ethics.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2021. 184 S. = T & T Clark Enquiries in Theological Ethics. Kart. £ 28,99. ISBN 9780567698995.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, veröffentlichte Ernst Wolf den programmatischen Aufsatz »Politia Christi«. Wie damals geht es nun, über 70 Jahre später, auch Ulrik Nissen um die sozialethischen Impulse, Probleme und Implikate des Luthertums, sodass die systematisch motivierte Übernahme jenes Titels ganz sachgemäß ist, wenn auch die Akzente ganz andere sind und heute sein müssen (5). N., der als associate professor in Aarhus lehrt, greift dabei auf zahlreiche eigene Studien aus den Jahren 2003-12 zurück, die in Polity of Christ – zunächst ebd. als Dissertationsschrift eingereicht – zusammengefasst und erweitert worden sind. Das diese Studie durchziehende Anliegen besteht darin, eine sozialethisch relevante dritte Position zu beziehen, die sich jenseits von Partikularismus und Universalismus befindet, dieses Dual in einer »dif- ferentiated unity« (3 u. ö.) gleichsam aufhebt und sich an konkre-ten (moral)theologischen Fragestellungen bewähren soll. Es geht demnach keineswegs um eine christologische Studie, wie der Titel suggerieren könnte; vielmehr wird das Symbol von Chalcedon als ein Strukturmodell adaptiert und etabliert, um im Gespräch mit Luther und vor allem Bonhoeffer den sozialethischen Rahmen für konkrete Aufgaben des Christseins heute – ohne Gott und gerade so vor und mit Gott – zu skizzieren.

Diese Untersuchung ist in sieben ähnlich aufgebaute Kapitel geteilt, die zunächst das Gespräch mit der neueren Forschungsliteratur suchen, dann eine Zweiteilung von alternativ bezogenen Positionen zwischen A und B vornehmen, um dann eine jenseits von A und B liegende dritte Stellung als eine jenen Gegensatz von A und B ›aufhebende‹ Einheit zu beziehen (C). Genau für diese Strategie nimmt N. die Zwei-Naturen-Lehre nach 451 in Anspruch, um sie in origineller Weise neu zur Geltung zu bringen. Kapitel 1 führt dazu in die Spannung zwischen Universalität (A) und Partikularität (B) ein, um im zweiten Kapitel eine ähnliche Struktur in Luthers Sozialethik und Christologie zu erkennen. Die drei folgenden Kapitel bilden den Kern N.s exegetischer Arbeit, da sie dezidiert Bonhoeffers Anleihen bei Chalcedon im Blick auf die Sozialethik beleuchten und auch hier jene differenzierte Einheit von Allgemeinheit und Spezifischem wiedererkennen (C). Erst in den letzten beiden Kapiteln kommt N. auf genuin (sozial)ethische Herausforderungen zu sprechen, um auch hier anhand einer chris-tologischen Struktur die moraltheologische Landkarte neu zu vermessen.

Was soll das konkret heißen? Zunächst mag erstaunen, dass Probleme gelöst werden sollen, indem auf ein seinerseits hochproblematisches Lehrstück zurückgegriffen wird, ohne etwas Substantielles zu eben jenen Untiefen zu sagen (etwa in der nur rudimentären Besprechung triftiger Einwände gegen die »Lösung« von Chalcedon bei O. Crisp; 16 f.). Im Umgang mit der christologischen Lehrbildung haben sich daher – überaus grob gesprochen– drei konstruktive Entwicklungen etabliert: Eine konservative Gruppe investiert in die Klärung der immanenten Widersprüchlichkeit dessen, was die Zwei-Naturen-Lehre artikuliert, wobei eine schwächere Version es dabei belässt zu begründen, warum die üblichen Kontradiktionen unauflösbar und daher als »Paradox« oder »Mysterium« nur umkreist werden können; oder aber man folgt Schleiermacher in seiner Reserve gegenüber einer metaphysischen Lesart, um jene Struktur und Spannung der zwei Naturen in eine Theorie der (religiösen) Subjektivität einzuzeichnen und damit gleichsam zu »verinnerlichen«; oder aber man versteht die Zwei-Naturen-Lehre als ein Modell, das helfen kann, andere Strukturen und Dynamiken (als und in Analogie) besser zu verstehen; diese analoge Modellierung liegt wiederum in unterschiedlichen Spielarten vor; nochmals drei seien kurz genannt: die systemtheoretische, die die Zwei-Naturen-Lehre als rekursive Differenz binärer Codierung versteht (Luhmann, Religion der Gesellschaft, Kap. 2); die metaphorologische, die beide Naturen als »Vehikel« und »Tenor« einer sprachlichen Interaktion oder eines twists begreift (dazu M. Buntfuß, Tradition und Innovation, Kap. 5); und die exemplarische, die die Zwei-Naturen-Lehre als Muster aufnimmt, um damit strukturelle Gegensätze aufeinander zu beziehen oder diese gänzlich aufzulösen: Die Zwei-Naturen-Lehre wird zur Schablone für die Verarbeitung komplementärer Begriffspaare bzw. phänomenaler Antagonisten.

N.s Projekt weist zwar Ähnlichkeiten mit kybernetischen und sprachtheoretischen Zugängen auf, gehört aber dem exemplarischen Typus analoger Modellierung an. Das bedeutet, dass die christologische Relationierung der göttlichen und menschlichen Natur der einen Person Jesus Christus für sozialethische Konfrontationen verwendet werden soll (4 f.8). N. nimmt also die vier berühmten Negativbestimmungen von Chalcedon – unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, unzerteilt – auf, ebenso das homoousios gegen den Nestorianismus als Dualismus sowie gegen eutychische Amalgamierung als Identifizierung beider Naturen und meint, in einem letzten Schritt, dass Luthers Lehre vom »fröhlichen« Wechsel der Eigenschaften zwischen jenen Naturen als Präzisierung von Chalcedon dienen kann. Dabei wird nicht recht klar, ob das Lehrstück von der communicatio idiomatum (erstmals bei Luther in der Schrift »Vom Abendmahl Christi« von 1528) das Symbol von 451 lediglich auslegt oder doch entscheidend erweitert (10, 120). An den Einzelheiten beider christologischen Lehrstücke und deren Weiterentwicklungen, insbesondere in der altprotestantischen Orthodoxie, ist N. leider nicht wirklich interessiert. Daher kommen Fragen der Konsubstantialität der Person ebensowenig zum Zuge wie Martin Chemnitz’ spätere Lehre von den drei genera jener »kommunikativen Eigenschaften« (außer 47; hatte E. Jüngel jenen Term aus dieser Debatte?). Dass N. nirgends auf die historische Genese dieser Doktrin eingeht, ist hingegen verständlich, weil sein exemplarischer Zugang rein systematisch bestimmt ist, wobei der Autor immer wieder betont, dass die hier vertretene Zwei-Naturen-Lehre figurativ oder metaphorisch zu verstehen sei (19.43.47.145; der Gegensatz zum obigen metaphorologischen Modell bleibt bestehen, denn N. nimmt die Zwei-Naturen-Lehre als Modell, während eine theologische Sprachtheorie umgekehrt eine Metapherntheorie für christologische Zwecke einbindet).

Dieses Modell wird nun ab Kapitel 2 auf ganz unterschiedliche, aber sozialethisch imprägnierte Konstellationen angewendet: auf die Lehre von den zwei Reichen (24 f., 89) und den doppelten Gebrauch des Gesetzes (25.33; wie steht es dann eigentlich um den usus in renatis?); auf die anthropologische Verfasstheit des Menschen zwischen Geist und Körper (31); auf die quasi-temporale oder normative Trennung von saeculum und eschaton (55-57); schließlich soll die chalcedonensische Formel auch als »model for communicative exchange in public discourse« (113) zwischen säkularen und religiösen Stimmen dienen (mit deutlicher Kritik an Chr. Tietz und der Habermas’schen Vorstellung, hier müssten Übersetzungsleistungen erbracht werden; 131 f.); ebenso sei die Zwei-Naturen-Lehre geeignet, die doppelte Bürgerschaft in beiden Reichen samt der – mit Bonhoeffer (73) – unvermeidlichen Schuldübernahme zu beschreiben, obgleich N. daran festhält, dass es einen »christologi-cal ontology of reason« gebe (65.69), sodass es liberale Positionen und ihre Hoffnung auf einen »overlapping consensus« schwer haben werden (gegen Rawls; 97 f.).

Die Reihe der Applikationen ließe sich noch etwas fortsetzen – aber recht schnell mag der Eindruck aufkommen (um sich dann zu erhärten), dass dem Negativbekenntnis aus dem 5. Jh. samt prekärem Eigenschaftsaustausch für das Verstehen zeitgenössischer Figurationen in all ihrer Diversität doch etwas viel zugetraut wird. Dies könnte man unter einem ambitionierten Projekt laufen lassen, doch dann wäre es womöglich weiterführender gewesen, die Eigenschaft der Ubiquität nicht auf die Zwei-Naturen-Lehre selbst anzuwenden und stattdessen an zwei oder drei Problemen in Ruhe zu verbleiben, um in concreto zu zeigen, was das »interpretative scheme« (37.80) einer Inkarnationschristologie zu leisten vermag. Was nun vorliegt, ist eine eröffnende Skizze, die einen erhellenden Zugang ermöglicht, es aber beim Modus der Ankündigung belässt; denn jetzt verspricht die Zwei-Naturen-Lehre eine apokatastasis panton und wird zum theologischen Allheilmittel promoviert. N. wiederholt immer wieder jene Formel, nach der das Universale (A) und das Partikulare (B) keine Gegensätze mehr bilden, sondern »in a relationship of simultaneous difference and unity« aufgingen (119); oder dass die zwei Reiche auf eine »contradictory affirmation of reality« hinausliefen (82). Offensichtlich stellen sie hier naheliegende und spannende Fragen nach den Spezifika ungetrennter, aber unvermischter, wenngleich reziprok interagierender Eigenschaften, die der Autor nicht einfach seinen Leser:innen überlassen muss.

Das letzte Kapitel (»Living in the Saeculum and Bearing Witness to Christ«) nimmt sich dann doch noch zwei ganz konkreten Fragestellungen an, nämlich dem Problem menschlicher Würde und der Frage der Abtreibung (bes. 137-139). N. geht dabei nicht auf materialethische Herausforderungen direkt ein, sondern ver- sucht – wiederum ganz auf der Linie eines »Chalcedonian understanding of responsive responsibility« (116) –, den Diskurs zu beschreiben, um sich diesen so umstrittenen Fragen zu nähern. Was dann aber folgt, ist nicht die Anwendung der communicatio idio- matum auf theologische Oppositionen, sondern eine kleine Tu- gendlehre für den irenischen Austausch zwischen Kontrahenten: N. nennt Geduld, Klugheit, Toleranz, gegenseitiges Lernen in Offenheit, auch für konservative Stimmen, u. a. (129). Vielleicht könnte man die Analoga zu beiden Naturen auf die Gemeinde (A) und ihre Umwelt (B) beziehen, nur wie kommt man dann zu der stets anvisierten »third position« (C), zumal deutlich ist, dass der »garstig breite Graben« nicht nur zwischen A und B, sondern auch innerhalb von A und B selbst verläuft. Dann aber wird unklar, zwischen wem der vielleicht gar nicht so »fröhliche Wechsel« eigentlich stattfindet.

Doch bei allen Anfragen und offenen Flanken gibt dieses Buch zu denken. Häufig ist es doch leider, aber nicht ohne Grund so, dass die Theologie ihre Impulse fast exklusiv aus anderen Disziplinen bezieht. Die Umkehrung der Im- und Exporte hingegen unterbleibt. Wollen die »anderen« nicht oder können »wir« nicht (mehr) oder beides? In jedem Fall liegt hier ein ziemlich bedenkliches »Handelsdefizit« hinsichtlich der intellektuellen Güter vor. Und so ist es doch ein in der Tat »fröhlicher Wechsel« der Blickrichtung, wenn ein theologisches Lehrstück zur Erhellung sozialer und politischer Fragen beider Reiche ernsthaft konsultiert wird.