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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1205–1207

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter

Titel/Untertitel:

Geschichte des Christentums in der Spätantike.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XXVI, 560 S. = Neue Theologische Grundrisse. Lw. EUR 79,00. ISBN 9783161611766.

Rezensent:

Markus Vinzent

Dieses mit seinen über 500 Seiten gewichtige »Lehrbuch« zeigt nicht nur einen, gemessen an den mir näher vertrauten angelsächsischen Verhältnissen, hohen Anspruch an die Klausur- und Examenskandidatinnen und -kandidaten, sie spricht auch für den Optimismus, dass derzeit und in weiterer Zukunft bestens ausgebildete, breit belesene und kritisch auf der Höhe der Zeit eigenständig denkende Ausgebildete die historische, theologische und kulturelle Bildung in den verschiedensten Formen weitertragen werden.

Dieser Eigenanspruch Peter Gemeinhardts, eines mit seinen übrigen, wichtigen Werken – gerade auch zur Geschichte von frühchristlicher Erziehung und Bildung – höchst anerkannten Kollegen, zeigt sich daran, dass er das eigene Werk misst an den Koryphäen dieser Zunft des 20. und 21. Jh., Hans Lietzmann, Karl Heussi, Wolf-Dieter Hauschild und Volker Henning Drecoll (9). Doch, wer das vorliegende Buch durchgearbeitet hat, wird erkennen, dass dieser Band der »Grundrisse« nicht so sehr im Material über die genannten Geschichten hinausgehen will, sondern vor allem im Zugriff einen Neuansatz bietet. Dieser ist zum einen die vierfache sachliche Perspektive, in welcher der Vf. das »Chris-tentum als Religion im Kontext anderer Religionen« betrachtet, »Frömmigkeit als soziale und religiöse Praxis« versteht, »Christliche Theologie als Reflexionskultur und Lehrbildung«, und »Kirche zwischen Institution und Organisation« ansiedelt (6). Dabei stehen »Themen, nicht Einzelpersonen im Fokus«, wobei dennoch »am Ende jeden Kapitels drei Gestalten aus unterschiedlichen Regionen der spätantiken christlichen Welt als Paradigmen ihrer Zeit vorgestellt werden«, es sind dies für die Zeit bis zur Mitte des 3. Jh.s Clemens von Alexandrien, Tertullian und Cyprian, für das 4. und 5. Jh. Athanasius, Ephrem und Augustin, von der Mitte des 5. Jh.s Severus, Gregor I. und Maximus Confessor.

Bei dieser Auswahl fällt natürlich auf, dass sich auch ein solches Lehrbuch des 21. Jh. trotz gewollter Einbindung zeitgenössischer Methodendiskussionen nicht vom tradierten Material befreien kann, wenn ausschließlich Männer, und zwar solche der Bildungsschicht, als Beispiele einer zunehmend patriarchalen Bewegung gewählt werden – warum nicht ergänzt durch Frauengestalten, gerade unter Einbeziehung literarischer Gestalten, die auch andere Traditionsschichten spiegeln, etwa Thekla im zweiten, Melania im 3. Jh. und Hypatia, die Lehrerin des Synesios, im 5. Jh. Gleichermaßen erdrückt die männliche Last in der Sekundärliteratur– nicht dass dies nicht die Forschungslandschaft widerspiegele mit ihrer Männerlastigkeit der vergangenen Jahrhunderte, doch gerade für ein Lehrbuch, das sich gleichermaßen an Studierende verschiedener Ausrichtung wendet und ihnen eine Bildungslandschaft vorstellt, wäre es wichtig, stärker auf die vielen Beiträge weiblicher Kollegen zu verweisen.

Auffallenderweise beginnt die »Geschichte des Christentums in der Spätantike« im zweiten Jahrhundert mit »Christusanhängern« – geschuldet der modernen Ausgrenzung des Neuen Testaments und seiner Erforschung aufgrund der hier nur scheinbar akzeptierten Projektion der Schriften des kanonischen Neuen Testaments ins erste Jahrhundert und der Absetzung dieses Forschungs- und Prüfungsgebiets von demjenigen, dem sich das vorliegende Lehrbuch widmet. Die unterschwellige Kritik klingt an in der Abgrenzung, »dass dieses Buch mit dem frühen 2. Jahrhundert einsetzt und die als ›neutestamentlich‹ geltenden Schriften ausklammert«, und zwar »nicht nur pragmatisch oder enzyklopädisch, sondern auch sachlich begründet« (5), denn »die Zeit der allerersten Christusanhängerinnen und -anhänger galt bald als ›apostolische‹ Periode, auf die man sich ebenfalls als normative Zeit zurückbezog« (5). Damit setzt der Vf. nicht die Existenz dieser Schriften in den Zeitraum vor dem von ihm behandelten, son- dern spricht korrekterweise von deren retrospektiver Ansetzung als »apostolische« Schriften in den vorhistorischen Raum. Dieses Lehrbuch beschreibt, was historisch greifbar ist, während ein anderes Lehrbuch in dieser Reihe die theologische Retrospektion des ersten Jahrhunderts behandeln wird.

Nun kann und soll eine Vorstellung dieses Buches nicht auf alle Aspekte eingehen. Bei der Lektüre fällt allerdings hier und da auf, dass eine gewisse Innensicht und Parteilichkeit durchscheint. Wenn etwa bei der Beleuchtung der Apologetik das Urteil positiv ausfällt, dass »mit der Logoschristologie« des »Justin und seinen Zeitgenossen Athenagoras, Tatian und Theophilus von Antiochien der Anschluss an die Philosophie ihrer Zeit« »gelang« – während gleichzeitig in Klammern hinzugesetzt wird: »was Celsus’ und später Porphyrius’ Widerspruch provozierte!« (45). Der Anschluss war folglich nicht gelungen, sondern nur eine Geschichtsschreibung der Sieger kann die Konfrontation als Erfolg verbuchen. Wie wenig Apologeten wie Tertullian überzeugen, zeigt eine andere Argumentation, die Tertullian (als Paradigma leider ausschließlich als Morallehrer vorgestellt) vorbringt: »Gegenüber intellektueller Kritik« von Nichtchristen sollen diese »anstatt hinter verschlossenen Türen in Unkenntnis der Faktenlage (Un-)Recht zu sprechen« »die Christen ›mit offenen Augen ansehen und öffentlich prüfen‹«, wobei als Zitat aus Tertullian gegeben wird: Die Wahrheit »weiß, dass sie auf Erden als Fremde weilt, unter ihr Fernstehenden leicht Feinde findet, dass sie aber ihre Herkunft, Wohnung, Hoffnung, Ansehen und Würde im Himmel hat« (46). Wie kann eine solche Argumentation – außer in den eigenen Kreisen – erfolgreich sein, wenn man zugleich fordert, Außenstehende sollen Fakten nennen, dann aber die eigene christliche Wahrheit in den Himmel setzt und sich hinter verschlossenen Türen verbarrikadiert, und zwar auch intellektuell?

Gemessen am Gesamtentwurf sind dies Quisquilien – das Lehrbuch ist ein großer Wurf, der immer wieder die Bildungsgeschichte in den Vordergrund stellt, sehr viel mehr als zuvor kritisiert und von der Anlage zu erwarten, auch andere Sozialebenen als die der höheren Bildung und andere als nur männliche Stimmen zu Wort kommen lässt. Wäre ich Kandidat im Examen für die letzten beiden der behandelten Jahrhunderte des 6. und 7. Jh.s, müsste ich noch gründlich diese Seiten nacharbeiten, denn sie bieten reichlich Stoff, in welchem ich mich selbst als Laie empfinde.

Ein sehr »bescheidenes«, aber offen und ehrliches Kapitel beschließt das Lehrbuch, ein Abschnitt über »multiple Christentümer«, beginnend mit einer Verhältnisbestimmung zwischen »Christentumsgeschichte und Religionsgeschichte« (514). Hier stößt nur auf, wenn für diese Zeit gesagt wird, Christen »teilten« ihre Situation »mit den Juden, denen der exklusive Monotheismus eine Integration ins zivilreligiöse Leben« verboten habe. Wie kann das recht verstanden werden im Urteil über eine Zeit, in der seit Justinian eine bestimmte Form des Christentums als Norm, Pflicht, staatlich zum Teil durchgesetzt und zur Ausgrenzung von Juden, Häretikern und Andersgläubigen und -denkenden im römisch-byzantinischen Reich geführt hatte? In diesem Schlusskapitel wird dann auch die Sicht auf Christen im Rahmen von anderen Religionen eher zu einer solchen verengt von Christen und ihren verschiedenen Konfessionen. Eine weise Einsicht allerdings beschließt das Buch: »Geschichte ist ein weltliches Geschäft« (523).

Dem Buch wünsche ich eine möglichst große, kritische Leserschaft, denn ich bin sicher, dass viele, die sich auf dieser Grund- lage für Examina vorbereiten, wohlgerüstet, bestens angeleitet und zu eigenständigem Weiterdenken durch die vielfachen Literatur-angaben angeregt werden. Ein solches Lehrbuch geschrieben zu haben, verlangt Respekt und einen großen Dank der Kolleginnen und Kollegen und all ihrer Studierenden, die von ihm profitieren werden!